Aber statt dessen erstarrte er für Momente, blickte sie aus seinen kalten, elektronischen Augen an - und zerfiel in zwei Teile. Aus dem plumpen, zwei Meter hohen Stahlkoloß wurden zwei hüpfende, metallene Ellipsoide, die von einem Kranz schwirrender Klingen und rotierender Messer umgeben waren.
Kyle registrierte die Gefahr instinktiv. Blitzschnell ließ er sich zur Seite fallen, sah aus den Augenwinkeln, daß das heranrasende Maschinenungetüm die Bewegung nachvollzog und warf sich noch im Sprung herum. Die stählernen Klingen des Schneiders wischten an ihm vorüber.
Sofort war Kyle wieder auf den Beinen. Noch während sich der halbierte Schneider auf der abschüssigen Ebene aus Sand herumzudrehen versuchte, überwand Kyle die Entfernung zu ihm mit einem gewaltigen Sprung und packte zwei der rasiermesserscharfen, gebogenen Klingen. Mit aller Macht warf er sich zurück, zog die Knie an den Körper und stieß die Beine fast im gleichen Sekundenbruchteil wieder vor. Ein scharfer Schmerz schoß durch seinen linken Fuß, als sich ein Metalldorn tief hineinbohrte, aber der plötzliche Ruck brachte den Schneider aus dem Gleichgewicht.
Für eine schreckliche halbe Sekunde hatte Kyle das Gefühl, daß es ihm nicht gelingen würde, den Koloß anzuheben, aber dann rollte er über die gekrümmten Schultern ab, und der Schneider verlor plötzlich den Boden unter den Füßen und segelte im hohen Bogen über Kyle hinweg. Er flog drei, vier Meter weit durch die Luft und prallte mit einem dumpfen Geräusch auf.
Ohne auf den Schmerz in seinem Fuß und seine blutenden Hände zu achten, sprang Kyle auf und fuhr herum. Der Roboter versuchte ebenfalls, auf die Füße zu kommen, aber es gelang ihm nicht. Seine dürren Stelzbeine knickten immer wieder ein, während die tödlichen Klingen wie in sinnloser Wut meterhohe Sandfontänen aus dem Boden rissen. Kyle betrachtete das mechanische Toben des künstlichen Ungeheuers noch eine Sekunde lang, ehe er sicher war, daß sich der Schneider nicht plötzlich erhob und sich wieder auf ihn stürzte, dann drehte er sich herum und hielt nach Mark und dessen Gegner Ausschau.
Sein Freund hatte weniger Glück gehabt als er. Er mußte zwar auch versucht haben, dem Schneider auszuweichen, aber der Roboter hatte ihn eingeholt und niedergeworfen. Kyle konnte lediglich ein Oval aus verchromtem Eisen sehen und Marks Beine, die unter dem Leib des mechanischen Killers hervorragten und heftig strampelten. Dann hörte er einen Schrei. Die Sandfontänen, die die Schwerter des Schneiders aufwirbelten, färbten sich plötzlich rot, und Marks Beine hörten auf, sich zu bewegen.
Kyle rannte schreiend los. Der Schneider ließ von seinem Opfer ab und wirbelte herum, die plötzlich blutbesudelten Schwertklingen hoben sich, um sich dem neu aufgetauchten Gegner entgegenzustellen. Kyle hatte alles vergessen, was man ihm gesagt hatte, alles, was er über ein Verhalten in einer solch gefährlichen Situation gelernt hatte. Er wußte nur, daß Mark in Lebensgefahr war und daß er ihm helfen mußte. Mit einem Schrei stürzte er sich auf den Schneider, packte eine der rotierenden Sicheln und riß das Maschinenwesen daran herum. Diese Bewegung kostete ihn zwei Finger, aber er vermochte den Robot-Killer ein paar Meter davonzuschleudern. Mit einem gellenden Schrei setzte er der Maschine nach und trat mit beiden Beinen nach den dünnen, eisernen Füßen des Geschöpfes.
Der Schneider verlor das Gleichgewicht und krachte weniger als einen Meter neben ihm zu Boden. Eine dünne, rasiermesserscharfe Klinge zuckte nach Kyles Gesicht und riß seine Wange auf, aber gleichzeitig krachte seine eigene Faust auf den Schalter im Hinterkopf des Maschinenwesens und deaktivierte es.
Der Schneider erstarrte, plötzlich nichts weiter als ein totes Stück Metall.
Kyle stöhnte. Er hatte noch nicht gelernt, körperliche Schmerzen völlig abzuschalten, wohl aber, sie zu unterdrücken und zu beherrschen. Zitternd plagte er sich auf. Alles drehte sich um ihn, und sein Herz schlug wie rasend. Er blutete aus mehreren Wunden, und er spürte, wie seine Kräfte nachließen. Trotzdem wankte er zu Mark hinüber.
Mark war noch bei Bewußtsein. Er blutete aus einem Dutzend verschiedener Wunden, und der feine Sand, auf dem er lag, sog das dunkle Rot wie ein gewaltiger Schwamm auf. Er bewegte die Lippen, als Kyle neben ihm auf die Knie fiel und sich über ihn beugte, brachte aber keinen Ton heraus. Dann sah Kyle, warum: Eine der Klingen hatte seine Kehle durchschnitten. Die Wunde schien ihn wie ein klaffender, roter Clownsmund anzugrinsen. In Marks Augen trat ein Ausdruck unsagbarer Qual.
Er starb.
Verzweifelt beugte Kyle sich über seinen Freund und preßte die Hand auf die furchtbare Wunde in seinem Hals. »Mark!« schrie er. »Nicht atmen! Versuche, nicht zu atmen! Konzentriere dich!«
Kyle sah die Panik in Marks Blick, und er begriff, daß die schiere Todesangst seinen Freund alles vergessen ließ, was sie ihnen beigebracht hatten. Für einen Moment drohte auch ihn die Panik zu übermannen. Er wußte plötzlich, daß Mark sterben würde, aber das durfte nicht geschehen! Nicht Mark! Nicht das einzige Geschöpf auf der ganzen Welt, das ihm noch irgend etwas bedeutete!
»Stirb nicht!« rief er verzweifelt. »Konzentriere dich! Du weißt, wie es geht! Reiß dich zusammen, du Idiot!«
Irgend etwas geschah mit dem Licht. Es wurde heller, als hätte sich plötzlich der Lichtkegel eines gewaltigen Scheinwerfers auf Kyle und seinen sterbenden Freund gerichtet. Und plötzlich erscholl eine dröhnende, nach Eisen klingende Stimme direkt vom Himmel herab:
»Kyle! Was tust du da?«
Kyles Kopf schoß mit einem Ruck in die Höhe. Mit Tränen in den Augen starrte er den Himmel über sich an, der plötzlich nicht mehr blau war, sondern die silberne Farbe des Metalls zeigte, aus dem er in Wahrheit bestand. Ein dunkler Schatten bewegte sich rasend schnell auf ihn zu.
»Mark!« schrie Kyle und fuhr fort, den Jungen zu schütteln. »Konzentriere dich! Versuche, nicht zu atmen! Der Sauerstoff in deinem Blut reicht. Du kannst damit leben, lange genug, um die Wunde zu schließen. Tu es! Tu es endlich!«
Er schüttelte Mark wie besessen, aber der Junge reagierte nicht mehr. Er konnte es nicht mehr.
Mark war tot. Die Erkenntnis brachte Kyle fast um den Verstand. Er schrie auf, begann, Mark noch heftiger zu schütteln, und schlug ihn schließlich mit der flachen Hand ins Gesicht, als könne er das Leben in ihn zurückprügeln.
Das dunkle Ding am Himmel wurde größer, setzte mit einem heulenden Laut auf dem Kamm des künstlichen Sandhügels hinter ihm auf und teilte sich, und die spinnengliedrigen Gestalten von zwei Dienerkreaturen eilten auf ihn zu.
Kyle fuhr herum. Plötzlich schlug sein verzweifelter Zorn in Haß um, eine ziellose, brodelnde Wut, die durch nichts zu besänftigen war. Mit einem gellenden Schrei riß er seine Waffe hoch, gab einen Schuß auf eine der beiden Dienerkreaturen ab und warf sich zur Seite, als sie mit einem Schmerzlaut zusammenbrach und die andere eine plumpe Waffe hob und auf ihn richtete.
Die gewaltige Ameise hatte keine Chance. Der Schmerz gab Kyle übermenschliche Kräfte. Er rollte sich über die Schulter ab, feuerte noch aus der Bewegung heraus auf die Dienerkreatur und registrierte mit grimmiger Befriedigung, wie sie ihre Waffe fallenließ und mit einem schmerzerfüllten Pfeifen zurücksprang. Blitzartig schwenkte er die kleine Strahlenpistole wieder herum und feuerte auf die andere Ameise, die auf die Füße zu kommen versuchte. Er traf auch diesmal, und wenn die Leistung des kleinen Strahlers auch längst nicht groß genug war, das gepanzerte Geschöpf zu verletzen, so fügte sie ihm doch großen Schmerz zu. Die Ameise stürzte zum zweitenmal, schlug alle vier Hände gegen das Gesicht und begann, hoch und schrill zu zischeln.