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Als Kyle sich herumdrehte, um auch die zweite Dienerkreatur endgültig niederzustrecken, traf ihn ein weißblauer Blitz, der direkt aus dem Himmel herabfuhr und sein Bewußtsein im Bruchteil einer Sekunde auslöschte.

*

»Die Mauer.« Barler deutete auf den Waldrand: »Sie wollten sie doch sehen, oder?«

Sie waren nicht wieder zur U-Bahn-Station zurückgekehrt, nachdem sie das zerstörte Botschaftsgebäude verlassen hatten, sondern eine gute Viertelstunde in die entgegengesetzte Richtung marschiert. Der Dschungel war beständig dichter geworden, und Charity war klar geworden, daß sie sich der Grenze der Freien Zone nähern mußten. Jetzt lag sie vor ihnen.

Der Dschungel endete nach weiteren zwei oder drei Schritten abrupt, und dahinter begann ... ja, was eigentlich?

Ein Energieschirm? Eine Kuppel aus flimmernder Moroni-Magie?

Unsinn.

Vor ihr war ... nichts.

Nichts und vielleicht das Erstaunlichste, das sie je zu Gesicht bekommen hatte.

Obwohl sie jetzt nur noch einen guten Meter von der unsichtbaren Grenze entfernt war, konnte sie sie nicht sehen. Es gab keine Linie verbrannter Pflanzen, keinen unsichtbaren Widerstand, der das wuchernde Grün zurückhielt - nichts. Unmittelbar vor ihr war der Boden mit einem Teppich aus Flechten, Wurzeln und Moos bedeckt, und einen Meter dahinter erstreckte sich nichts als der Beginn einer öden, leicht ansteigenden Gras- und Trümmerlandschaft, die irgendwo in schwer zu schätzender Entfernung mit dem Himmel verschmolz. Einen Moment lang fragte sich Charity, welchen Anblick die Energiekuppel wohl von außen bieten mochte, hätte es jemanden gegeben, der sie beobachtete. Die Welt außerhalb sah allerdings eher so aus, als wäre das am höchsten entwickelte Leben ein Grashalm: Wo einmal die Vororte von Paris gewesen waren, breitete sich nur noch eine einzige riesige Trümmerlandschaft aus. Nach kurzem Suchen fand Barler einen Ast, den er abbrach und im hohen Bogen auf die Trümmerlandschaft hinauswarf.

Er erreichte sie nie.

Als er die unsichtbare Grenze berührte, in der der Dschungel in dieses graue, triste Land überging, verschwand der Ast.

Es geschah auf sonderbare Weise völlig undramatisch. Kein Funkenregen entstand, keine rauchenden Trümmer oder rieselnder Staub - gar nichts. Das Stück Holz war schlicht und einfach verschwunden. Charity blickte den Franzosen betroffen an. »Funktioniert das ... umgekehrt genau so?« fragte sie.

Barler nickte. »Nichts kommt hinaus und nichts hinein.«

Statt direkt darauf zu antworten, nahm sie den Gamma-Laser von der Schulter, den sie aus der Botschaft mitgenommen hatte, entsicherte ihn und richtete den Lauf der Waffe auf die verkohlte Ruine eines zweistöckigen Hauses, keine fünfzig Schritte von ihr entfernt. Barler sah ihr stirnrunzelnd zu, sagte aber auch dann nichts, als Charity abdrückte und der dünne, blauweiße Energiestrahl in die Wand des Gebäudes einschlug und ein fast metergroßes Loch hineinbrannte.

Charity senkte die Waffe, zögerte einen Moment und hängte sie sich dann wieder über die Schulter, nachdem sie sie gesichert hatte.

»Und was beweist das jetzt?« fragte Barler.

»Nichts«, gestand Charity nach kurzem Zögern. »Außer vielleicht, daß diese Mauer nicht ganz so undurchdringlich ist.«

Barler lachte humorlos. »Das ist ein Laser, nicht wahr?« fragte er mit einer Geste auf das Gewehr. Er hatte eine gleichartige Waffe über der Schulter hängen, die er wie sie aus der Botschaft mitgebracht hatte, hatte ihr aber bisher nur einen flüchtigen Blick geschenkt.

Charity nickte.

»Im Grunde nichts anderes als konzentriertes Licht«, fuhr Barler fort. »Daß die Mauer Licht durchläßt, habe ich nie bestritten. Dummerweise nutzt uns das überhaupt nichts.«

»Ich weiß«, gestand Charity niedergeschlagen. Sie blickte auf die unsichtbare, tödliche Trennlinie, die die verwüstete Stadt vom Rest einer vielleicht ebenso verwüsteten Welt trennte. »Wie weit reicht diese Mauer?« fragte sie.

Barler zuckte mit den Achseln. »Keiner von uns war je auf der anderen Seite des Flusses«, antwortete er. »Aber es muß eine Halbkugel sein. Ich schätze, daß sie einen Durchmesser von vielleicht hundert Kilometern hat.«

Charity überlegte einen Moment. »Das bedeutet ...«

»Daß ihr Zentrum ungefähr unter dem Eiffelturm liegen muß«, bestätigte Barler.

Charity sah ihn verwirrt an. »Manchmal«, sagte sie, »frage ich mich allen Ernstes, ob Sie Gedanken lesen können.«

Barler lächelte flüchtig. »Es ist nicht besonders schwer. Vor allem nicht, wenn es die gleichen Gedanken sind, die ich auch schon hundertmal hatte.«

»Niemand hat jemals diese Wand durchbrochen?« fragte Charity.

Barler schüttelte den Kopf. »Niemals.«

»Und Sie und all die anderen, die in der Freien Zone leben? Wie sind Sie hierhergekommen?«

Barler schwieg einen Moment. »Ich?« Er lächelte schmerzlich. »Ich weiß es nicht. Ich erinnere mich, an einem anderen Ort geboren zu sein. Aber es ist zu lange her, als daß ich sicher wäre, ob es wirklich so war oder ob ich es mir nur einbilde. Solange ich mich wirklich erinnern kann, lebe ich hier. Und die anderen auch.« Er winkte ab, als sie ihn unterbrechen wollte. »Es ist einfacher, wenn ich Ihnen den Rest zeige, Miss Laird.«

Wieder blickte Charity auf die unsichtbare Mauer. Irgend etwas an Barlers Geschichte stimmte nicht. Sie wollte eine weitere Frage stellen, aber Barler deutete in die Richtung, aus der sie gekommen waren. »Lassen Sie uns gehen«, sagte er. »Der Rückweg ist weit, und ich möchte nicht, daß Ihre Freunde anfangen, sich Sorgen um Sie zu machen.«

10

»War das der Moment?«

Die weiße Ameisengestalt des Inspektors wandte den Kopf und blickte fragend auf Stone herab, und er fügte mit einer erklärenden Geste auf die reglose, nackte Gestalt auf dem chromschimmernden Untersuchungstisch hinzu: »Der Fehler in seiner Konditionierung?«

Der Inspektor zögerte einen Moment, als wäre er sich nicht ganz schlüssig, was er antworten sollte. Dann machte er eine Bewegung, die wohl seine Entsprechung zu einem menschlichen Kopfschütteln war.

»Nein. So etwas kommt vor. Nicht sehr oft, aber es kommt vor. Er war noch sehr jung damals, und es war noch zu viel von einem Menschen in ihm. Es muß später noch etwas anderes geschehen sein, etwas, von dem wir nichts wissen. Dieser Vorfall war uns bekannt.«

Stone wandte sich nachdenklich ab und sah wieder den bewußtlosen Megamann an. Obwohl Kyles Wille so sicher ausgeschaltet war wie eine Maschine, deren Stecker man herausgezogen hatte, spürte er immer noch Furcht vor der schlanken Gestalt. Waren es seine eigenen Schuldgefühle Kyle gegenüber - oder beruhte seine Beunruhigung auf dem sicheren Wissen, daß Kyle auch jetzt noch gefährlich war?

Sein Blick löste sich vom Gesicht des Megamannes, das im Schlaf sonderbar friedlich und entspannt wirkte, und suchte den großen Schirm über dem Bett, auf dem Kyles Gedanken umgesetzt in Bilder und Worte zu sehen waren. Im Moment erkannte er nichts als ein sinnloses Durcheinander von Bewegung, Farben und Formen. Er fragte sich, ob diese furchteinflößende Gedankenmaschine bei jedem Menschen funktionierte. Vielleicht war es auch gar nicht Kyle, sondern diese Umgebung, die ihm Angst machte. Alles hier war so ... anders. So völlig verschieden von dem, was er in den letzten Jahren gesehen hatte.