»Aber ich«, murmelte Charity. »Jedenfalls ... glaube ich es.«
Diesmal war es Barler, der sie fragend ansah.
»Die Kinder, von denen Kyle erzählt hat«, murmelte Charity, mehr zu sich selbst als an Barler gewandt. »Wir ... haben uns gefragt, was sie mit all den Kindern machen, die die Priesterinnen in das Shai-Taan bringen.«
»Was für Kinder?« fragte Barler. »Und was für Priesterinnen?«
Charity überhörte die Frage. »Die wenigsten werden zu Megakriegern gemacht«, fuhr sie fort. »Natürlich ... sie ... sie testen sie. Und die, die nicht geeignet sind, kommen hierher.«
Offensichtlich verstand Barler keine Silbe von dem, was Charity gesagt hatte. Aber er ging auch nicht darauf ein, sondern wandte sich um. Sie hatte erwartet, daß sie die breite Treppe ansteuern würden, aber Barler begab sich nach rechts und schritt auf einen der drei Aufzüge zu. Erstaunt registrierte Charity, daß sich die Türen selbsttätig öffneten, als er sich ihnen näherte, und die Kabine dahinter hell erleuchtet war.
»Sie überraschen mich immer mehr, Barler«, sagte sie, während sie hinter ihm in den Lift trat. Der Franzose lächelte, drückte den Knopf für die dritte Etage und drehte sich um, als die Türen zuglitten.
»Für Sie mag das alles erstaunlich sein«, antwortete er. »Für mich ist es eher erbärmlich - wenn ich daran denke, wie es hier einmal aussah.«
Einen Moment lang schwieg Charity nachdenklich, dann fragte sie: »Woher wissen Sie, wie es war? Ich meine, einmal ganz abgesehen von dem Material, daß Sie brauchen, um hier alles weiter funktionieren zu lassen - woher haben Sie das Wissen?«
Barler bedachte sie mit einem sonderbaren Blick. »Captain Laird, Sie sind ein sehr ungeduldiger Mensch, bitte warten Sie bis morgen. Ich werde dann alle Ihre Fragen beantworten.«
Die Kabine hatte die dritte Etage erreicht und hielt an. Auch hier oben brannte nur jede vierte oder fünfte Lampe, aber die Helligkeit reichte aus, um Charity erkennen zu lassen, daß sich das Gebäude in einem ausgezeichneten Zustand befand. Entweder hatte es hier im Inneren keine Kämpfe gegeben, oder man hatte sich alle Mühe gemacht, ihre Spuren zu tilgen. Einige der vielen Türen standen offen, und Charity konnte erkennen, daß man die früheren Hotelzimmer offenbar zu Lagerräumen umfunktioniert hatte. In manchen standen Schreibtische und große, gefüllte Aktenregale, andere waren mit Kisten und Kartons fast bis unter die Decke vollgestopft.
»Beute«, erklärte Barler spöttisch. »Diese Stadt muß einmal sehr reich gewesen sein. Wir sind ziemlich viele, und wir leben jetzt seit vierzig Jahren hier, und trotzdem finden wir immer noch genug, um zu leben.«
»Wie groß ist Ihre Bevölkerung?« erkundigte sich Charity.
Barler zuckte mit den Achseln. »Wir haben uns nie gezählt«, antwortete er, »aber wir müssen ungefähr zehntausend Menschen sein.«
Zehntausend, dachte Charity. Das war viel - und doch entsetzlich wenig, wenn sie bedachte, daß die Shai-Priesterinnen seit vierzig Jahren Kinder in das Shai-Taan brachten, die ihren Familien fortgenommen worden waren. Was um alles in der Welt geschah mit den anderen? Hatten sie sie wirklich bei ihren Bemühungen getötet, sie in Wesen wie Kyle zu verwandeln? Oder hatte Kyle sie belogen, als er behauptete, es gäbe nur sehr wenige wie ihn? Charity weigerte sich, an eine dieser Möglichkeiten zu glauben. Es mußte noch eine dritte Erklärung geben.
Barler blieb vor einer Tür am Ende des Korridors stehen. »Kommen Sie, Captain Laird«, sagte er. »Ihre Freunde warten sicherlich schon.« Er öffnete die Tür, und Charity trat an ihm vorbei in den dahinterliegenden Raum.
Skudder, Net und Gurk saßen an einem kleinen Tisch unter dem Fenster und diskutierten offensichtlich erregt mit Jean und einer dunkelhaarigen jungen Frau, die nur wenig älter als Net war und Jeans Worte in ein fast akzentfreies Englisch übersetzte. Sie unterbrachen ihr Gespräch, und Skudder und Net sprangen auf und kamen ihnen entgegen, während Gurk sitzen blieb und sie mit finsteren Blicken musterte.
»Charity!« sagte Skudder mit offenkundiger Erleichterung. »Wie geht es dir?«
Charity wollte antworten, aber Barler trat neben sie und legte ihr die Hand auf die Schulter. »Ich werde Sie jetzt allein lassen. Captain Laird kann Sie ja über alles informieren. Sie werden verstehen, daß ich noch eine Menge zu tun habe. Morgen früh stehe ich Ihnen dann zur Verfügung. Bis dahin werden sich Jean und Helen ...« Er deutete auf das dunkelhaarige Mädchen am Tisch, »... um Sie kümmern.«
Charity maß die junge Französin mit einem kurzen Blick. Sie sah freundlich aus und hatte ein offenes, sympathisches Gesicht.
»Helen ist meine Tochter«, fügte Barler hinzu und verabschiedete sich mit einem flüchtigen Lächeln.
Charity ging zum Tisch und setzte sich. Plötzlich spürte sie, wie erschöpft sie war.
»Sie dürfen es meinem Vater nicht übelnehmen, wenn er mißtrauisch ist«, sagte Helen. »Immerhin hat er die Verantwortung für uns alle hier.« Das Mädchen hatte keinerlei Ähnlichkeit mit Barler. Nur in ihren Augen glomm das gleiche energische Funkeln.
»Ihr Vater hat ja recht«, entgegnete Charity. »Ich an seiner Stelle wäre wahrscheinlich genauso mißtrauisch. Vor allem jetzt, nachdem ich diese Mauer gesehen habe.« Net sah sie fragend an, und Charity fuhr erklärend fort: »Es ist irgendeine Art von Energiefeld, durchlässig lediglich für Luft und Licht.«
»Wo wart ihr genau?« erkundigte sich Skudder. »Ich habe schon begonnen mir Sorgen zu machen. Ihr wart stundenlang weg.«
Charity zögerte einen Moment. Selbst die kleine Anstrengung, Skudder und den anderen von dem zu erzählen, was sie gefunden hatten, schien über ihre Kräfte zu gehen. Eine bleierne Müdigkeit hatte sich auf ihre Glieder gelegt.
Es wurde sehr still im Zimmer, während Charity von ihren Erlebnissen sprach. Skudder und Net sahen sehr nachdenklich aus, und Gurk starrte stumm aus dem Fenster, vor dem der letzte Rest des grünen Tages verblaßte.
»Ich fürchte, ich ... verstehe nicht ganz«, brach Net schließlich das Schweigen, nachdem Charity geendet hatte. »Wenn dieser Bunker so wichtige Informationen enthält - warum haben sie ihn dann nicht schon längst gewaltsam geöffnet?«
»Weil diese Informationen zu wichtig sind«, antwortete Charity. »Sie wollen sie haben, aber nicht zerstören.«
Net sah sie fragend an. »Warum?«
»Weil sie Plünderer sind!«
Alle Blicke wandten sich erstaunt Gurk zu. Er hatte bisher kein Wort gesprochen, aber erstaunlicher noch als seine Worte, war die Art, wie er sie aussprach. Seine Stimme zitterte vor Haß.
»Was meinst du damit?«
Gurk blickte Charity einen Moment lang wortlos an, und sie begriff, daß er seine Worte schon wieder bedauerte. Trotzdem antwortete er: »Habt ihr euch nie gefragt, woher sie all ihre Waffen und Maschinen, Computer und Raumschiffe haben?«
Charity schüttelte den Kopf. Die Frage schien ihr so verrückt, daß sie ihr niemals wirklich in den Sinn gekommen war.
»Jedenfalls haben sie sie nicht selbst gebaut«, sagte der Zwerg. »Sie stehlen und rauben sich alles zusammen, was sie brauchen.«
»Das dürfte ein bißchen übertrieben sein«, sagte Skudder.
Gurk starrte ihn an. In seinen Augen funkelte es böse, und für einen Moment schien sich sein Zorn nun auf den Hopi richten zu wollen.
»Das ist es nicht!« behauptete er. »Sie stellen nichts selber her. Sie haben sich nie die Mühe gemacht, irgend etwas wirklich selbst zu tun, als zu rauben und zu brandschatzen.«