Jean bückte sich, bog vorsichtig das Gewirr aus dornigen Zweigen beiseite, das den Eingang verbarg, und zerrte mit den Zähnen den schweren Lederhandschuh von der rechten Hand, während er mit der linken die Ranken zurückhielt. Sorgfältig plazierte er die gespreizten Finger der rechten auf den von einem dünnen, roten Ring eingerahmten Kreis neben der Tür und hörte das vertraute Klicken, als die Festung seine Handabdrücke identifizierte und ihm den Zutritt freigab. Jean hatte fast ein Jahr gebraucht, um die Funktionsweise dieser Tür zu ergründen und sie so umzuprogrammieren, daß sie nur noch ihm den Zutritt gestattete.
In der in dunkelgrüner Tarnfarbe gestrichenen Flanke der Festung erschien ein dünner, haarfeiner Spalt, der sich rasch zu einer knapp eineinhalb Meter hohen Tür weitete, und Jean trat gebückt hindurch. Die Tür schloß sich hinter ihm so lautlos, wie sie sich geöffnet hatte, und fast im gleichen Moment glomm unter der Decke ein gelbes, mildes Licht auf, das den kleinen Raum in eine sonderbare Art von Helligkeit tauchte. Wie immer, wenn Jean hierherkam, blieb er einen Moment lang stehen und genoß einen Luxus, den die anderen Bewohner der Freien Zone sich wahrscheinlich nicht einmal vorstellen konnten - so wenig wie er es gekonnt hatte, ehe er das erste Mal hierher kam: Er stand einfach da und sah. Dieses Licht war völlig anders als der türkisgrüne Schein des Himmels, unter dem Jean geboren und aufgewachsen war. Und bei seinem ersten Besuch hatte es ihn erschreckt, ja, fast in Panik versetzt. Aber dieses Gefühl war rasch vergangen und hatte dem einer sonderbaren Vertrautheit Platz gemacht. Heute war es so, daß er diesen gelben Schein als angenehmer empfand als das Licht des Tages.
Sein Blick tastete über das Durcheinander von Skalen und Zeigern, von verschiedenfarbigen Lichtern, von winzigen Bildschirmen - und verharrte auf einer kleinen, roten Lampe, die in hektischem Rhythmus flackerte.
Jean runzelte die Stirn. Er kannte die Bedeutung dieses Lichtes. Jemand hatte versucht, sich Zutritt zu verschaffen.
Er setzte sich in einen der drei gepolsterten Schalensitze hinter dem Kommandopult, streckte die Hand aus und drückte rasch hintereinander drei Tasten. Das Licht unter der Decke wurde schwächer, ohne völlig zu verlöschen, und dicht neben seiner linken Hand glomm ein rechteckiger, kaum handgroßer Monitor auf. Jean hörte ein helles Summen, als das Videoband zurückfuhr, dann machten die flimmernden Streifen auf dem Bildschirm einer dreidimensionalen, farbigen Abbildung des Bereiches vor der Festungstür Platz.
Er atmete erleichtert auf, als er sah, daß nur ein Tier versucht hatte einzudringen: ein grüngraues, fast mannsgroßes Etwas, das wie eine mißlungene Kreuzung zwischen einer Krabbe und einer Kakerlake aussah und dessen schimmernder, schwarzer Hornpanzer es unzweifelhaft als eine Kreatur von Moron auswies. Seine riesigen Augen schienen Jean über den Monitor hinweg haßerfüllt anzustarren.
Jean lächelte nervös. Was er sah, war nur eine Aufzeichnung, Tage, vielleicht sogar Wochen alt, und trotzdem mußte er sich beherrschen, um nicht instinktiv den Blick zur Tür zu wenden und sich davon zu überzeugen, daß das Ding den handstarken Stahl nicht einschlug und hereingekrochen kam.
Die Aufzeichnung endete, als die Krabberlake ihre sinnlosen Bemühungen, den Panzerstahl einzuschlagen, endlich aufgab und sich umwandte, um mit grotesken, hopsenden Schritten davonzuschleichen. Jean wollte den Bildschirm schon wieder abschalten, aber in diesem Moment stabilisierten sich die grau-weißen Streifen darauf erneut zu einem Bild. Und er sah aufmerksamer wieder hin.
Die Kamera mußte sich wenige Augenblicke nach dem Ende der ersten Aufzeichnung automatisch wieder eingeschaltet haben, und als er den kleinen Bildschirm genauer betrachtete, begriff er auch, warum: Das Insektenwesen hatte sich gute dreißig oder vierzig Schritte von der Festung entfernt und kroch jetzt mit grotesken Bewegungen über die Ebene, die sie vom Rand der Insel trennte. Aber auf dem Bildschirm war plötzlich noch eine zweite Bewegung - ein flüchtiges, silbernes Blitzen am Himmel, fast am Rande des Aufnahmebereiches der Kamera. Es kam rasend schnell näher, verschwand für einen Moment und kehrte dann etwas langsamer zurück - und dann stach ein dünner, unerträglich greller Lichtblitz aus dem Himmel und spießte die riesige Insektenkreatur auf. Jean schloß geblendet die Augen, als der Bildschirm für einen Moment in strahlender Weißglut aufzulodern schien. Als er die Lider wieder hob, war die Kreatur verschwunden. Dort, wo sie eine Sekunde zuvor noch gehockt hatte, glühte der Boden in einem dumpf-dunklen, düsteren Rot.
Zwei, drei Sekunden lang blieb das Bild statisch, dann erlosch der Monitor endgültig, und er hörte ein leises Klicken. Der Gleiter mußte weitergeflogen sein, und seither war nichts mehr geschehen, was eine Aufnahme wert gewesen wäre.
Aber Jean blickte noch eine ganze Weile versonnen auf den kleinen, wieder grau gewordenen Bildschirm. Der Zwischenfall hatte ihm wieder einmal deutlich gezeigt, wie dünn das Eis war, auf dem er sich bewegte. Niemand wußte von der Existenz dieser Festung, weder in der Freien Zone noch drüben, auf der anderen Seite - aber er hatte keine Garantie, daß das für alle Zeiten so blieb. Ein simpler Zufall wie die Neugier einer gehirnlosen Kreatur konnte alles verderben. Er wagte gar nicht daran zu denken, was geschehen wäre, hätte der Gleiter das Geschöpf auch nur einige Minuten früher geortet und es angegriffen, während es sich unmittelbar vor der Festung befand. Jean wußte, daß die Festung über Waffen verfügte, die vermutlich ausreichten, einen Gleiter wie eine lästige Fliege vom Himmel zu schnippen. Und er war ziemlich sicher, daß das Gehirn der Festung einen Laserschuß, der auf sie abgegeben wurde, nicht unbedingt als freundlichen Akt betrachten würde. Als er selbst das erste Mal hierhergekommen war, hatte er seine Neugier beinahe mit dem Leben bezahlt. Er würde sich etwas einfallen lassen müssen.
Aber deshalb war er schließlich auch hier.
Im ersten Jahr, nachdem Jean die Festung entdeckt und sich Zutritt verschafft hatte, hatte er sie einfach nur als Versteck benutzt. Er hatte manchmal ganze Nächte hier verbracht, in denen er nichts anderes tat, als einfach dazusitzen und zu träumen. Er war damals fast noch ein Kind gewesen.
Aber in den letzten beiden Jahren hatte Jean vorsichtig damit begonnen, die Geheimnisse dieser Festung Stück für Stück zu erforschen. Verglichen mit dem, was er noch nicht wußte, hatte er wahrscheinlich kaum etwas herausgefunden. Aber mit jedem Geheimnis, das er löste, mit jedem Gerät, dessen Funktion er begriff, mit jedem Apparat, den er zu bedienen lernte, ging es ein wenig schneller. Jean zweifelte nicht daran, daß er in weiteren zwei, allerhöchstens drei Jahren diese Festung vollkommen beherrschen würde.
Und dann ... Ein dünnes Lächeln spielte um seine Lippen, als er an den gewaltigen, schlanken Zylinder aus Glas und schimmerndem, grünem Kristall dachte, den er in dem halbrunden, drehbaren Turm über seinem Kopf entdeckt hatte. Er war sehr sicher, daß es sich dabei um eine Laserwaffe handelte. Er wußte noch nicht, wie sie funktionierte, aber er würde es herausfinden, und dann ...
Nun, dachte er, dann würde der nächste Jäger, der kam, um ein bißchen Spaß mit ein paar Bewohnern der Freien Zone zu haben, eine gewaltige Überraschung erleben.
Jean verscheuchte diesen Gedanken und konzentrierte sich auf den eigentlichen Grund seines Besuchers. Beim letzten Mal hatte er durch Zufall herausgefunden, wie er den Hauptrechner einschalten konnte.
Das Gerät gab zwar bisher nur sinnlose Buchstaben- und Zahlenkombinationen von sich und beantwortete all seine in die Tastatur gehämmerten Fragen und Befehle mit einem sturen:
A> BAD OR MISSING PASSWORD. ACCESS DENIED
aber er hatte sich im Laufe der letzten Monate mit der Funktionsweise einiger kleinerer Computer vertraut gemacht und war ziemlich sicher, auch mit diesem größeren Gerät fertig zu werden, wenn er nur ein wenig Zeit hatte. Und Zeit hatte er im Überfluß.