»Das ist doch Unsinn!« erwiderte Charity matt. »Du sprichst von einem Volk, das wahrscheinlich schon Dutzende von Planeten versklavt hat.«
»Dutzende?« Gurk lachte gequält. »Ja ... aber es ist trotzdem so, ob du es nun glaubst oder nicht. Warum sollte man sich die Mühe machen, irgend etwas selbst zu tun, wenn man es stehlen kann? Die Galaxis ist groß genug, und es gibt verdammt viele Planeten, die auszurauben sich lohnt.«
»Wie viele?« fragte Charity.
Gurk zuckte nur mit den Achseln. »Auf jeden Fall sehr viel mehr, als du dir auch nur vorstellen kannst«, antwortete er gereizt.
»Das würde auf jeden Fall erklären«, mischte sich Jean ein, dem Helen alles übersetzt hatte, »warum sie diese Basis ebenso zerstört haben wie die Bunkerstation, aus der Sie gekommen sind, Charity.«
Charity sah Jean überrascht an. Er lächelte. »Wir haben uns unterhalten, während Sie fort waren.«
Tatsächlich mußte Charity zugeben, daß seine Worte einer gewissen Logik nicht entbehrten. Die Moroni hatten SS01 überrannt und zu großen Teilen zerstört, aber sie hatten die Anlage nicht völlig vernichtet, was ihnen durchaus möglich gewesen wäre. Das war auch der einzige Grund, weshalb sie noch lebte.
»Wenn sich dort unten tatsächlich die genaue Position aller...« Er sah sie fragend an. »Wie haben Sie es genannt? Nato?« Charity nickte. »... aller Natodepots befindet«, fuhr Jean plötzlich aufgeregt fort, »dann bedeutet das, daß irgendwo dort draußen genug Waffen und Ausrüstung lagern, um eine ganze Armee auszurüsten.«
»Warum sollte das eine Rolle spielen?« fragte Charity leise.
»Weil wir uns dann vielleicht endlich wehren können!« antwortete der junge Franzose erregt. »Ich meine - wenn es uns gelingt, irgendwie durch diese verdammte Mauer zu kommen, oder wenn es sogar einen dieser Stützpunkte in unserer Stadt gibt ...«
»Wenn es ihn gäbe«, sagte Helen ruhig, »hätten wir ihn längst gefunden.«
Jean machte eine ärgerliche Geste. »Ihr habt ja auch die Festung nicht gefunden«, erwiderte er.
»Weil du uns nicht verraten hast, wo sie ist«, entgegnete Helen fast freundlich.
Charity sah das ärgerliche Aufblitzen in Jeans Augen und hob besänftigend die Hand. »Bitte«, sagte sie. »Keiner hat etwas davon, wenn ihr euch jetzt streitet. Ganz davon abgesehen, daß Helen wahrscheinlich recht hat. Und wenn wir an die Daten herankämen - es ist nicht gesagt, daß noch irgend etwas von all diesem Material existiert. Außerdem gibt es immer noch die Mauer.«
Jean runzelte verärgert die Stirn. »Sie haben gesehen, über welche Waffen die Festung verfügt«, sagte er.
»Und jetzt willst du hingehen und damit den ganzen Dschungel niederbrennen«, sagte Helen spöttisch. »Oder am besten gleich die Basis.«
»Warum nicht?« fragte Jean trotzig.
Das dunkelhaarige Mädchen seufzte. »Wirst du eigentlich nie erwachsen, Jean?« fragte es. »Du und diese anderen Narren, ihr begreift nie, daß wir hier nur leben, weil sie es uns gestatten.«
»Leben!« Jean lachte höhnisch. »Ein jämmerliches Leben, bis sie dich zur Jagd einladen!«
»Oder bis irgendein Trottel sie zu einem Angriff provoziert«, versetzte Helen.
»Hast du schon vergessen, was dir passiert ist?« fragte Jean. Seine Stimme zitterte. »Sie haben deine Eltern umgebracht. Sie hätten fast dich umgebracht - was muß noch passieren, damit du begreifst, daß wir nicht mehr als Spielzeug für sie sind?«
»Ihre Eltern?« fragte Charity.
Helen nickte. »Barler ist nicht mein richtiger Vater. Er hat mich zu sich genommen, nachdem meine Eltern auf einer Jagd umgekommen sind.«
Es war nicht das erste Mal, daß Charity diesen Begriff hörte, und diesmal erkundigte sie sich nach seiner Bedeutung.
»Ein kleiner Zeitvertreib von Barlers Freunden«, sagte Jean, ehe Helen ihre Frage beantworten konnte. »Ab und zu holen sie ein paar von uns über den Fluß und setzen sie im Dschungel aus. Wenn er es zurück bis zum Fluß schafft, dann überlebt er. Aber bisher hat es noch keiner geschafft.« Er deutete mit einer Kopfbewegung auf Helen. »Außer ihr. Aber ihre Eltern kamen dabei ums Leben. Eines von diesen Ungeheuern hat sie umgebracht - vor ihren Augen.«
»Ist das wahr?« erkundigte sich Charity mitfühlend.
»Ja.« Zu ihrer Überraschung lächelte Helen. »Aber es macht mir nichts mehr aus, darüber zu reden. Es ist mehr als zwanzig Jahre her. Ich erinnere mich kaum noch, was wirklich passiert ist.«
Jean antwortete ärgerlich, aber Charity hörte gar nicht mehr hin. Mit einemmal glaubte sie jede Stunde, die sie jetzt ununterbrochen auf den Beinen waren, wie eine Zentnerlast auf sich zu fühlen. Sie war einfach nur müde.
Mit einem kaum unterdrückten Gähnen stand sie auf und wandte sich um. »Wißt ihr was?« fragte sie. »Ihr könnt meinetwegen weiter streiten, aber ich suche mir jetzt irgendeine Ecke, in die ich mich verkriechen kann.«
»Warten Sie«, sagte Helen und stand ebenfalls auf. »Ich zeige Ihnen Ihr Zimmer.«
Charity nickte dankbar und folgte dem Mädchen. Sie verließen das Zimmer, überquerten den Korridor und betraten einen weiteren, kleineren Raum. Helen deutete auf ein breites, frisch bezogenes Bett und lächelte flüchtig, als Charity sich mit einem erleichterten Aufatmen darauf fallen ließ, ohne sich auch nur die Mühe zu machen, Jacke oder Stiefel auszuziehen.
»Morgen früh zeige ich Ihnen die Stadt«, sagte sie, »wenn Sie das wollen.«
»Gern«, murmelte Charity mit geschlossenen Augen. Dann hob sie die Lider doch noch einmal und sah Helen an. »Tun Sie mir einen Gefallen, und legen Sie bei Ihrem Vater ein gutes Wort für Jean ein«, bat sie. »Immerhin wären wir ohne ihn nicht mehr am Leben.«
Helen machte eine vage Handbewegung. »Ihm passiert schon nichts«, antwortete sie. »Mein Vater wirkt oft strenger, als er ist. Er wird Jean schon nicht den Kopf abreißen.«
Charity wollte darauf antworten, aber noch bevor sie es tun konnte, war sie bereits eingeschlafen.
11
Es war nach langer Zeit die erste Nacht gewesen, in der sie das Gefühl hatte, in Sicherheit zu sein, und nicht von Alpträumen geplagt wurde. Sie erwachte durch das Gefühl von Sonnenlicht auf dem Gesicht, und obwohl es zu grell war, blieb sie minutenlang einfach mit geschlossenen Augen liegen und genoß die Wärme. Und für die gleiche Zeitspanne gönnte sie sich einen Luxus, den sie sich in all den Wochen, die seit ihrem Erwachen im Schlaftank verstrichen waren, niemals erlaubt hatte: sich der Illusion hinzugeben, daß alles nur ein böser Traum war, daß sie gleich die Augen öffnen und sich in ihrem Bett in dem kleinen weißen Haus in einem New Yorker Vorort wiederfinden würde.
Aber es blieb eine Illusion, und sie zerplatzte, als sie die Augen aufschlug und sah, daß sie nicht allein war.
Auf einem Stuhl neben ihrem Bett saß eine ausgemergelte Gestalt mit dem Körper eines zwölfjährigen Kindes und dem Schädel eines kahlköpfigen, hundertjährigen Riesen. Gurk war offensichtlich eingeschlafen; sein Kopf, der tatsächlich zu schwer für seinen Hals zu sein schien, war zur Seite gesunken. Er bewegte sich unruhig im Schlaf, und seine Lippen formten lautlose Worte in einer fremden, unverständlichen Sprache.
Charity setzte sich lautlos auf und betrachtete den Zwerg aufmerksam. Gurk trug fast unentwegt einen weiten Mantel, der seine Gestalt bis zu den Knöcheln verhüllte. Seinen Kopf verbarg er fast immer unter einer gewaltigen Kapuze. Jetzt aber war er nur mit einer knielangen Hose und einem dünnen Hemd bekleidet. Die sonderbare Diskrepanz zwischen seinem Kopf und seinem Leib stach so noch stärker ins Auge. Während Charity den Zwerg schweigend betrachtete, fragte sie sich mit einem leisen Gefühl der Verwunderung, wieso weder ihr noch irgendeinem der anderen jemals aufgefallen war, wie fremdartig Gurk wirklich aussah. Er war ein humanoides Wesen, aber er war eindeutig kein Mensch. Und nicht zum ersten Mal war sie plötzlich fast sicher, daß der einzige Grund, aus dem sie sich nie diese Frage gestellt hatte, der war, daß Gurk nicht wollte, daß sie es tat.