Plötzlich erwachte Gurk. Er bewegte sich nicht, sondern hob nur die Lider, aber in seinem Blick lag keine Müdigkeit, sondern nur der Ausdruck einer sonderbar tiefen, fast väterlichen Zuneigung.
»Wer bist du?« fragte sie.
Statt zu antworten, lächelte Gurk flüchtig, setzte sich in seinem Stuhl auf und blickte an sich herab. Ein betroffener Ausdruck huschte über sein Gesicht. Er bückte sich, hob den Mantel auf, der neben ihm auf dem Boden lag und deckte sich damit bis zum Hals zu. Er sah plötzlich aus wie ein Kind, das sich mit dem Kleidungsstück eines Erwachsenen zugedeckt hatte, weil ihm kalt war.
»Ich hoffe, ich habe dich nicht geweckt«, erklärte Gurk.
Charity schüttelte den Kopf. »Was tust du hier?« fragte sie.
»Ich habe darauf gewartet, daß du aufwachst«, antwortete Gurk. »Ich hatte das Gefühl, wir beide müssen miteinander reden. Allein.«
Charity fragte sich, ob es wirklich Zufall war, daß Gurk ihr wieder einmal zuvorgekommen war. Seit ihrer Flucht aus dem Shai-Taan hatte sie keine Zeit und keine Gelegenheit gehabt, mit ihm zu sprechen. Aber ein Gespräch war wichtig, denn von seinem Ausgang hing möglicherweise alles ab, was sie in Zukunft tun würden. Voller plötzlichem Schrecken wurde ihr bewußt, daß das Wissen dieses mißgestalteten Zwerges über die Zukunft dieses ganzen Planeten entscheiden konnte.
»Ja«, sagte sie. »Ich glaube, es gibt da ein paar Dinge, die wir klären müssen.«
»Stone hat mit dir gesprochen«, sagte Gurk bekümmert. »Ich dachte mir, daß dieses alte Waschweib die Klappe nicht halten kann.«
Charity lächelte flüchtig. Gurk hatte bisher mit Erfolg den Narren gespielt, aber er war in Wahrheit alles andere als ein Narr.
»Also?« fragte Charity. »Wer fängt an? Du oder ich?«
Gurk seufzte. »Ich habe leider keine Zigaretten, die ich dir anbieten könnte.«
Charity blickte ihn fragend an.
»Du könntest mir die Asche aufs Haupt streuen, und ich könnte dazu laut mea culpa schreien und mir auf die Brust schlagen«, sagte Gurk erklärend.
Gegen ihren Willen mußte Charity lachen. »Du gibst nie auf, den Clown zu spielen, was?«
»Vielleicht bin ich es«, erwiderte Gurk ernst.
»Ich glaube eher, daß du gefährlich bist, kleiner Mann.«
Gurk grinste weiter, aber in seinen Augen glomm ein mißtrauisches Funkeln. »Gefährlich?« fragte er.
Charity nickte. »Gefährlich dumm oder gefährlich heimtückisch - ich bin noch nicht ganz sicher.«
»Heimtückisch vielleicht«, antwortete Gurk beleidigt. »Aber dumm bin ich nun wirklich nicht.«
»Du hast in aller Ruhe zugesehen, wie Skudder und ich mit vereinten Kräften angefangen haben, das Grab für diesen ganzen Planeten zu schaufeln«, sagte Charity.
»Jetzt überschätzt du dich, Cherry«, antwortete Gurk lächelnd. »So tief könnt ihr gar nicht graben.«
»Hör auf, den Idioten zu spielen«, bat Charity müde, »du weißt genau, was ich meine. Stone hat mir erzählt, was mit deinem Heimatplaneten Passiert ist.«
Sie behielt den Zwerg bei diesen Worten genau im Auge. Sie hatte damit gerechnet, daß er erschrak oder in Zorn geriet, aber Gurk grinste unerschüttert weiter.
»Hat er die Wahrheit gesagt?« fragte sie.
»Wer?« fragte Gurk.
»Stone«, antwortete Charity geduldig, obwohl ihr Gurks Blick verriet, daß er sehr genau wußte, was sie von ihm wollte. »Kurz, bevor sie kamen, entdeckten unsere Sternwarten das Licht einer neuen Supernova, Gurk. Wir tauften sie auf den Namen PRO-ALPHA-7. Ich nehme an, du hattest einen anderen Namen dafür.«
»So?«
»Stone behauptet, es wäre die Sonne deiner Heimat gewesen.«
»Er ist zweifellos ein helles Köpfchen.«
»Sie ist nicht von sich aus explodiert«, fuhr Charity fort. »Stone behauptet, die Moroni hätten sie gesprengt, als es ihnen nicht gelang, euch zu besiegen. Ist das die Wahrheit?«
»Klar«, antwortete Gurk. »Es gab einen ziemlichen Knall, kann ich dir sagen.«
Charity blieb ernst - und sie spürte auch, daß Gurk nicht so gefaßt war, wie er sich gab. »Und es macht dir gar nichts aus?«
Gurk zuckte mit den Achseln. »Es ist ziemlich lange her«, antwortete er. »Nach eurer Zeitrechnung ...« Er überlegte einen Moment, »... so ungefähr siebzigtausend Jahre, nicht wahr?« Charity nickte, und Gurk fuhr fort. »Eine Menge Zeit. Ich kann mich kaum noch erinnern, wie es dort aussah.«
Es dauerte einen Moment, bis Charity begriff, was der Zwerg da überhaupt gesagt hatte. Ungläubig riß sie die Augen auf und starrte ihn an. »Du ... du warst ... dabei?«
Gurk nickte. »Ich war einer der letzten, die wegkamen«, bestätigte er.
Charity starrte Gurk mit immer größerer Verblüffung an. Sie zweifelte keine Sekunde an seinen Worten.
Sie spürte mit unerschütterlicher Sicherheit, daß der Zwerg nicht log. »Du ... du willst mir erzählen ... daß du ... siebzigtausend Jahre alt bist?«
»Willst du meine Geburtsurkunde sehen?« Gurk grinste und entblößte dabei eine Reihe spitzer, gelber Zähne. »Natürlich bin ich so alt. Aber natürlich bin ich es auch nicht.«
»Aha«, sagte Charity.
»Ich gehörte zu denen, die im letzten Moment herauskamen«, fuhr Gurk fort. »Wir hatten ein Sternenschiff. Einige von uns haben es geschafft, im letzten Moment wegzukommen.« Seine Stimme wurde leiser, und plötzlich trat doch ein Ausdruck von Verbitterung in seine Augen. »Aber nicht sehr viele«, fügte er hinzu.
»Und die anderen?« fragte Charity mitfühlend.
»Es war ein sehr kleines Schiff. Wir waren zweihundertsechsundachtzig. Alles, was von der Bevölkerung meines ganzen Planeten übrigblieb.«
»Ich meine die anderen Schiffe«, bemerkte Charity rasch.
Gurk schüttelte den Kopf.
»Ich ... will nicht darüber reden. Ich ... war zufällig an Bord des Schiffes, als es geschah«, sagte er. »Es ging so ... unglaublich schnell. In der einen Sekunde war die Sonne noch da, und in der anderen ...«
»Was genau ist passiert?« fragte Charity.
Gurk lächelte schmerzlich. »Du kennst die Geschichte. Du hast sie auch erlebt. Sie kamen eines Tages aus dem Nichts, und wir waren ebensolche Narren wie ihr - wir haben ihnen nicht nur noch die Tür aufgehalten, wir haben ihnen den roten Teppich ausgerollt, wenn du so willst. Wie dumm waren wir! Wir haben auf die Freunde von den Sternen gewartet, die aus dem Transmitter treten - und an ihrer Stelle kamen sie.«
»Aber ihr habt sie zurückgeschlagen«, bemerkte Charity.
»O ja!« Gurks Stimme schnappte fast über. »Wir haben sie besiegt - immer und immer wieder. Am Ende«, fügte er leise hinzu, »haben wir uns wohl totgesiegt.«
Er hob die Hände, als wolle er sie in einer verzweifelten Geste vor das Gesicht schlagen, ließ sie dann aber wieder sinken und fuhr mit zitternder Stimme fort: »Es war nichts als ein Zufall, daß ein paar von uns überlebten. Vielen von uns war klar, daß wir ihnen nicht bis in alle Zukunft Widerstand leisten konnten. Wir wußten, daß wir früher oder später verlieren würden, und aus diesem Grund bauten wir auch das Schiff.«
»Um damit zu fliehen und irgendwo eine neue Heimat zu suchen«, vermutete Charity.
»Ja.« Gurk nickte. »Es wäre so oder so sinnlos gewesen. Sie beherrschten damals schon fast die Hälfte der Galaxis, und sie werden auch die andere Hälfte erobern. Keine Macht des Universums kann sie jetzt noch aufhalten. Wir befanden uns auf einem Probeflug und wollten gerade nach Hause zurückkehren, als die Sonne explodierte. Daß wir davonkamen, war ein Wunder. Das Schiff war fast so schnell wie das Licht. In den ersten Wochen rechnete keiner von uns damit, daß wir es schaffen würden. Aber irgendwie haben wir es geschafft.«