»Und dann?« fragte Charity.
Gurk seufzte tief und zuckte mit den Schultern. »Wir versuchten, eine andere Heimat zu finden«, antwortete er. »Aber es war aussichtslos. Wohin wir auch kamen, sie waren entweder schon da, oder die Sonnen hatten keine bewohnbaren Planeten. Wir besuchten mehr als ein Dutzend Welten, aber es war überall dasselbe. Schließlich beschlossen wir, so lange einfach geradeaus zu fliegen, wie unsere Maschinen mitspielten. Es war so eine Art Selbstmord mit Verzögerung. Aber was hatten wir schon zu verlieren?«
»Und dann seid ihr hierhergeflogen?«
»Zum anderen Ende der Milchstraße«, bestätigte Gurk. »Nicht hierher zu dieser Welt. Die Maschinen des Raumschiffes arbeiteten mehr als ein Jahrhundert hindurch zuverlässig, aber es waren eben nur Maschinen, und jede Maschine geht irgendwann einmal kaputt. Wir mußten auf einer Welt notlanden, die schon von ihnen erobert worden war.«
»Ein Jahrhundert?« fragte Charity. Sie versuchte, scherzhaft zu klingen. »Und was habt ihr in den anderen neunundsechzig getan?«
»Ein Jahrhundert unserer Zeit«, antwortete Gurk. »Du weißt, was geschieht, wenn sich ein Raumschiff der Lichtgeschwindigkeit nähert.«
»Die Zeit an Bord verstreicht langsamer«, sagte Charity.
Gurk nickte. »Wir flogen annähernd mit Lichtgeschwindigkeit, so daß für uns die Zeit praktisch stehenblieb. Einige von uns hofften, ihnen auf diese Weise zu entkommen. Leider war es nur eine weitere vergebliche Hoffnung. Wir landeten auf einem Planeten ein paar Dutzend Lichtjahre von hier und versuchten uns irgendwie durchzuschlagen.« Er zuckte mit den Achseln. »Ich weiß nicht, ob es den anderen gelungen ist oder ob ich der letzte bin.«
»Und wie bist du dann hierhergekommen?«
»So wie alle anderen«, antwortete Gurk. »Kyle und seine mörderischen Brüder sind nicht ihre einzigen Sklaven.«
Er kicherte leise. »Das klingt fast komisch, wie? Sklaven, die sich Sklaven halten. Aber wenn man sich einmal daran gewöhnt hat, ist es gar nicht so schlimm. Solange man sich unauffällig verhält und tut, was sie von einem verlangen, kommt man ganz gut durch.«
Charity seufzte. »Dann ist es also sinnlos«, murmelte sie. »Wenn ... wenn das alles stimmt, Gurk, dann hat nichts von alledem Sinn gehabt, was ich bisher getan habe. Dann können wir nicht gewinnen. Und wenn doch, dann verlieren wir trotzdem.«
»Wir leben noch, oder?«
»Ja«, sagte Charity bitter. »Wir leben noch. Und wir bereiten ihnen ein bißchen Ärger. Doch wenn wir ihnen zuviel Ärger machen, dann ...« Sie spreizte ruckartig die Finger der rechten Hand, um eine Explosion zu demonstrieren.
»Willst du aufgeben?« fragte Gurk.
Charity starrte ihn an. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, aber es war kein Schmerz, sondern eine sonderbare Mischung aus Verzweiflung und ohnmächtiger Wut, die sie verspürte.
»Natürlich nicht!« sagte sie bitter. »Wir werden weiterkämpfen, und vielleicht gelingt es uns ja sogar, sie zurückzuschlagen.«
»Ich glaube, jetzt überschätzt du dich wirklich«, sagte Gurk ernst. »Ganz egal, wer du bist und was du weißt, du wirst es kaum ganz allein schaffen, sie zu schlagen.«
»Dann verrate mir, warum ich es überhaupt versuchen soll!« fragte Charity.
»Um in Freiheit zu leben, Charity. Du weißt so unendlich viel über die Vergangenheit dieses Planeten, viel mehr als irgendeiner von denen, die heute hier leben. Du kannst die Moroni nicht schlagen. Du kannst ihnen nicht einmal wirklich Schaden zufügen. Keiner kann das. Aber du kannst wenigstens einigen anderen die Freiheit zurückgeben. Willst du wissen, warum ich bei euch geblieben bin? Weil ich glaube, daß du es wirklich schaffen kannst. All diese Narren, die sich selbst Rebellen und Widerständler nennen, tun doch nichts anderes als das, was Daniel und seine Kreaturen ihnen gestatten. Aber du kannst irgendwo auf dieser Welt einen Ort finden, an dem wenigstens einige von euch in Freiheit leben können.«
Es vergingen Sekunden, bis Charity überhaupt begriff, was Gurk gesagt hatte. »Das ist doch nicht dein Ernst«, murmelte sie.
Auf Gurks Gesicht machte sich wieder dieses sonderbare, beinahe väterliche Lächeln breit. »Doch.«
»Das glaubst du wirklich?« Charity stand mit einem Ruck auf. »Sieh dich hier um, Gurk«, verlangte sie. »Schau dich in dieser sogenannten Freien Zone um, und dann wiederhole das, was du gerade gesagt hast.«
»Die Menschen hier sind glücklich«, erwiderte Gurk leise.
»Das sind sie nicht!« widersprach Charity. »Sie sind Gefangene! Sie sind ...«
»Sie sind frei«, unterbrach sie Gurk. Er beugte sich in seinem Sessel vor und blickte sie mit einem undeutbaren Gesichtsausdruck an. Zum ersten Mal spürte Charity, wie unendlich alt dieses Wesen war; und auf seine Art wohl auch weise. »Sie sind frei, Charity«, wiederholte Gurk. »All diese Menschen wären schon lange tot, wenn sie sie nicht hierhergebracht hätten! Du hast es doch selbst gesehen!«
»Hierhergebracht?« Charity lachte bitter. »O ja. Jene, die sie nicht gebrauchen konnten und die das Glück hatten, ihre Experimente zu überleben! Einer von hundert!«
»Sie leben«, beharrte Gurk. »Sie leben, sie können tun und lassen, was sie wollen, sie ...«
Nun war es Charity, die Gurk mit schriller Stimme unterbrach: »Das sind sie nicht! Sie sind Gefangene, und sie wissen es nicht einmal. Sie leben in dieser Stadt unter dieser verdammten Energiekuppel, und sie leben nur so lange, wie es ihnen die Ameisen erlauben!«
»Und?« fragte Gurk ruhig. »Ist das so ein großer Unterschied?« Er hob besänftigend die Hand, als Charity schon wieder auffahren wollte. »Ich habe die Welt, in der du geboren wurdest, niemals kennengelernt, aber eines weiß ich: Ihr wart auch früher nicht frei, auch wenn ihr es vielleicht geglaubt habt. Ihr habt euch selbst Grenzen gesetzt, und wo ihr sie überwunden habt, da seid ihr auf andere gestoßen, die die Natur für euch errichtet hatte. Ihr wart nur so lange frei, wie es das, was ihr eine höhere Gerechtigkeit genannt habt, es zuließ.«
»Aber das ist ein Unterschied«, sagte Charity.
Gurk lächelte flüchtig. »Er ist nicht so groß, wie du vielleicht glaubst.«
Charity begann unruhig im Zimmer auf und ab zu gehen, aber statt Gurk anzufahren, wie sie eigentlich gewollt hatte, blieb sie plötzlich wieder stehen und sah ihn sehr nachdenklich an. »Glaubst du an einen Gott?« fragte sie.
Die Frage schien Gurk zu überraschen - und aus irgendeinem Grund auch in Verlegenheit zu bringen. Einige Sekunden lang blickte er verwirrt zu Charity auf. »Ja«, sagte er dann. »Vielleicht auf eine etwas andere Art und Weise als du, aber ja ... die Antwort ist ja.«
»Ich auch«, antwortete sie. »Und deshalb kann ich das, was du gesagt hast, nicht akzeptieren. Wer immer sie sind - eines sind sie bestimmt nicht: eine gottgesandte Plage.« Sie machte eine zornige Geste zum Fenster. »Ich kann so nicht leben! Und diese Menschen hier«, fügte sie leiser hinzu, »auch nicht.«
»Worte!« sagte Gurk. »Schöne Worte, Captain Charity Laird. Ihr seid Meister der Worte, Charity. Ich habe eure Literatur studiert und eure Geschichte. Dein Volk und meines, sie sind sich ähnlicher, als du ahnst. Aber in einem unterscheiden wir uns: Wir haben schon vor langer Zeit begriffen, daß man die Dinge so nehmen muß, wie sie kommen.«
»Ja«, sagte Charity zornig. »Deshalb seid ihr auch untergegangen.«
»Weil wir nichts daraus gelernt haben«, antwortete Gurk ruhig. »Wir haben versucht, uns gegen das Unvermeidliche zu wehren. Mit dem Ergebnis, daß wir ausgelöscht wurden. Ich will nicht, daß es deinem Volk genauso ergeht.«