Kyle taumelte zurück. Sein Körper analysierte das Gift der Springmade in Sekunden und aktivierte ein kompliziertes System von Enzymen und Drüsensekreten, das die toxische Substanz rasch in eine andere, völlig harmlose umwandelte. Fast gleichzeitig verhärtete sich das Fleisch rings um die winzige Made zu einer knochenharten Kapsel, die das Tier daran hinderte, weiter in seinen Körper einzudringen. Die Schußwunde schloß sich fast ebenso schnell wie sie entstanden war. Als Kyle sich mit einem Satz auf den Eingeborenen stürzte, war von der Verletzung schon nichts mehr zu sehen.
Der Humanoide schien zu begreifen, wie sinnlos seine Waffe war, denn er versuchte nicht noch einmal, auf Kyle zu schießen, sondern machte eine Bewegung, als wolle er zur Seite ausweichen, blieb dann aber plötzlich stehen und empfing Kyle mit einem harten Kolbenhieb. Der eisenharte Schaft der Waffe traf ihn mit furchtbarer Wucht an der Schläfe. Für Momente war er benommen. Trotzdem riß er instinktiv den Arm in die Höhe, als der Eingeborene ein zweites Mal zuschlagen wollte. Das Gewehr wurde dem Humanoiden aus der Hand gedreht und fiel zu Boden.
Kyles Sinne klärten sich wieder. Er sah, wie der Humanoide ein Messer zog, und versuchte auszuweichen, aber wieder kam seine Reaktion zu spät: Die handlange Klinge fuhr tief in seinen Hals, und er spürte, wie sein eigenes Blut in seine Luftröhre strömte.
Kyle hatte den Eingeborenen hoffnungslos unterschätzt. Er hatte nicht geglaubt, wirklich gegen ihn kämpfen zu müssen, aber nun reagierten sein Unterbewußtsein und seine künstlich verstärkten Instinkte: Blitzartig umklammerte er die Hand des Eingeborenen mit solcher Wucht, daß er den Knochen brechen hören konnte, griff mit der anderen, freien Hand nach dem Messer, zog es heraus und tötete den Humanoiden mit seiner eigenen Klinge.
Als er herumfuhr, sah er, daß das Weibchen und das Junge bereits gute zehn, fünfzehn Schritt entfernt waren und in den Busch liefen. Er verschwendete eine Sekunde an den Gedanken, daß die Dienerkreatur sein Verhalten aufmerksam beobachtete und er sich für die Fehler, die er gemacht hatte, würde verantworten müssen, dann hob er das Messer des Eingeborenen, das er noch immer in der Hand hielt, und warf es.
Er traf. Aber statt das Junge zu töten, auf das er gezielt hatte, streifte es nur mit dem Griff seine Schulter. Das Mädchen schrie auf und stürzte. Kyle unterdrückte einen Fluch und rannte ihm nach.
In diesem Moment geschah etwas Unerwartetes.
Statt zu fliehen und sich in Sicherheit zu bringen, blieb das Weibchen plötzlich stehen, starrte aus entsetzt aufgerissenen Augen zuerst das Mädchen und dann Kyle an - und machte mit einem spitzen Schrei kehrt!
Kyle war verblüfft, daß er sich nicht einmal wehrte, als sie sich mit weit ausgebreiteten Armen zwischen ihn und das Junge warf und ihn mit ihren Fäusten traktierte. Zwei, drei harte Schläge trafen ihn, und plötzlich blitzte auch in der Hand der Eingeborenen ein Dolch auf, mit dem sie nach seinen Augen zielte. Kyle drehte den Kopf und Oberkörper zur Seite, so daß der Stich ins Leere ging und die Eingeborene an ihm vorübertaumelte, streckte dann blitzschnell das Bein aus und schlug ihr die geballte Faust in den Nacken, als sie stolperte. Noch ehe das Weibchen zu Boden fiel, wirbelte er herum, um auch das Junge zu töten.
Aber er tat es nicht.
Er konnte es nicht.
Er begriff plötzlich, warum die Eingeborene zurückgekommen war. Sie mußte gewußt haben, daß sie nicht die geringste Chance hatte, einen Gegner wie ihn zu besiegen; und trotzdem hatte sie es versucht.
Langsam, als kämpfe er gegen unsichtbare stählerne Ketten, ließ Kyle seine zum tödlichen Schlag erhobenen Arme sinken und blickte das Eingeborenenjunge an. Das Mädchen lag auf dem Rücken; es rührte sich nicht, sondern starrte ihn nur aus angstvoll aufgerissenen, dunklen Augen an. Langsam ließ sich Kyle auf die Knie sinken und streckte die Hand nach dem Mädchen aus; fast ohne zu wissen, warum er es eigentlich tat, aber doch mit dem sicheren Gefühl, daß es richtig war.
Kyle spürte das Entsetzen, das dieses kleine Wesen empfand; ein Entsetzen, das nur seiner Erscheinung galt, nicht dem, was er mit ihm tun würde. Er hatte plötzlich das verrückte Gefühl, daß das Mädchen den Tod eher als Erlösung betrachtete.
Wer war er, daß dieses Mädchen den Tod weniger fürchtete als ihn?!
»Hab ... hab keine Angst, Kleines«, sagte Kyle. Seine Stimme klang heiser; er war es nicht gewohnt, solche Worte zu sprechen. »Ich tue dir nichts.«
Das Gesicht des Kindes zeigte keine Regung. Kyle begriff, daß es seine Worte gar nicht gehört hatte oder daß sie ihm nichts bedeuten.
Er hörte Schritte, dann fiel der dünne, harte Schatten der Dienerkreatur über das Gesicht des Mädchens, und endlich löste es seinen Blick von Kyle. Es sah auf, und die seltsam gestaltlose Furcht in seinem Blick machte Abscheu und Haß Platz.
Auch Kyle drehte den Kopf und blickte die Dienerkreatur an. Die gigantische Ameise schaute aus ihren starren Augen auf ihn und das Mädchen herab.
»Warum zögerst du?« fragte die Computerstimme des Übersetzungsgerätes. »Eliminiere sie.«
Kyle sah wieder das Mädchen an. Es hatte leise zu weinen begonnen, aber er wußte, daß die Tränen, die über sein schmutziges Gesicht liefen, nicht der Angst vor seinem eigenen Tod galten, sondern dem Anblick der beiden furchterregenden Gestalten. Eine kalte, unmenschlich starke Hand schien nach seinem Herzen zu greifen und es langsam zusammenzudrücken.
Er war wieder fünf Jahre alt, er hielt wieder seinen sterbenden Freund in den Armen, und zum ersten und letzten Mal in seinem Leben als Megakrieger wußte er, was es hieß, um einen Menschen zu trauern.
»Eliminiere sie!« verlangte die Dienerkreatur noch einmal.
Kyle blickte das Mädchen eine weitere Sekunde an, dann stand er ganz ruhig auf, drehte sich herum und tötete die Dienerkreatur mit einer einzigen blitzartigen Bewegung.
*
Vom Dach des Louvre aus bot die Stadt ein Bild, das trotz all der Verwüstung und Zerstörung, trotz der grünvioletten, wuchernden Pflanzenmasse den Betrachter noch immer faszinieren mußte. Es war, dachte Charity, als wäre die alte Würde der Stadt noch irgendwie vorhanden; sie hatten die Gebäude und Straßen zerstört, sie hatten jede Spur menschlichen Lebens und menschlichen Schaffens aus den Bereich jenseits der Seine getilgt, aber was sie nicht hatten beseitigen können, das war der Geist, der diese Stadt erschaffen hatte. Paris war noch immer ein Sinnbild für alles, wofür Menschen jemals gekämpft hatten: Freiheit, Leben, Gerechtigkeit ...
Sie setzte den Feldstecher ab und betrachtete Barler und Skudder, die neben ihr standen. Sie fragte sich, was diese beiden beim Anblick der verwüsteten Stadt empfanden. Wahrscheinlich nichts, dachte sie niedergeschlagen. Vielleicht hatte Gurk recht. Vielleicht war Freiheit nur eine Illusion, für die sich nicht zu sterben lohnte.
Sie verscheuchte den Gedanken und sah für einige weitere Augenblicke zur Silhouette des Eiffelturms hinüber. Wieder glaubte sie für einen Moment, eine Bewegung zu erkennen; ein unscharfes, dunkles Glitzern hoch unter seiner Spitze.
»Sie haben sie gesehen?« fragte Barler, als sie den Feldstecher senkte.
Charity sah ihn verwirrt an. »Wen?«
»Die Königin.«
»Nein«, antwortete Charity automatisch. »Ich ... Wovon sprechen Sie überhaupt?«
»Von der Königin«, wiederholte Barler. Er lächelte verzeihend, als er ihren fragenden Gesichtsausdruck bemerkte. »Was glauben Sie, woher all diese kleinen Monster kommen, die Ihre Freunde und Sie fast zum Frühstück verspeist hätten?«