Aber war er das nicht längst? Hatte er nicht seit fünfundzwanzig Jahren sein eigenes Volk verraten?
Ein neues Geräusch drang in seine Gedanken; die Atemzüge der Dienerkreatur draußen vor der Tür wurden nervöser. Kyle wandte den Kopf, blickte die geschlossene Tür an und lauschte. Schritte waren zu vernehmen, dann hörte er gedämpfte Stimmen, die zweifellos Stone und dem Inspektor gehörten. Als sie näher kamen, ließ sich Kyle wieder zurücksinken und schloß die Augen. Sein Atem beruhigte sich. Er zwang sein Herz, gleichmäßig und sehr langsam zu schlagen, als befände er sich noch in tiefer Bewußtlosigkeit. Einen Augenblick später glitt die Tür mit einem leisen Summen auf. Er spürte, daß vier Personen die Kammer betraten; die beiden Inspektoren, Governor Stones und ein Megakrieger.
Die Tür schloß sich wieder, und die Schritte näherten sich der stählernen Liege.
»Warum haben Sie darauf bestanden, dabeizusein?« fragte die Metallstimme eines Inspektors.
»Ich ...« Stone zögerte. »Nennen Sie es meinetwegen übertriebene Vorsicht«, fuhr der Governor schließlich fort. »Ich will mich davon überzeugen, daß er auch wirklich getötet wird.«
»Das ist unlogisch«, antwortete der Inspektor. »Unsere Versicherung muß Ihnen reichen.«
Stone lachte gezwungen. »Ich bin ein Mensch«, antwortete er. »Menschen sind nicht immer logisch. Ich könnte keine Nacht mehr ruhig schlafen, wenn ich seinen Tod nicht selbst miterleben würde. Er hat versucht, mich umzubringen. Und ich weiß, wozu diese Geschöpfe fähig sind.«
Kyle wagte nicht, die Augen zu öffnen, denn er wußte, daß der anwesende Megakrieger jede noch so winzige Bewegung registriert hätte.
Er wagte es auch nicht, die Muskeln anzuspannen oder seine übermenschlichen Kraftreserven zu mobilisieren. Dennoch waren alle seine Sinne plötzlich aktiviert. Er hörte jedes noch so winzige Geräusch, er spürte jede noch so leise Vibration, ja, selbst die Bewegung der Luft, die die Schritte Stones und des Megamannes verursachten.
»Ist das auch der Grund, aus dem Sie dabeisein wollen, wenn Captain Laird gefangengenommen wird?« fragte der Inspektor.
»Unter anderem«, antwortete Stone. »Aber ich will auch sichergehen, daß sie tatsächlich lebendig gefangengenommen wird. Tot nützt sie uns überhaupt nichts.«
»Es ist nicht mehr nötig, Captain Laird unbedingt lebend in unsere Gewalt zu bringen«, antwortete der Inspektor. »Die Informationen, die sie sich von ihr erhoffen, werden sich ohnehin binnen einer Stunde in unserem Besitz befinden.«
»Trotzdem!« widersprach Stone unwillig. »Mir wäre wohler, wenn ich dabeisein könnte. Was spricht dagegen?«
»Nichts«, antwortete der Inspektor. »Verzeihen Sie die Frage. Es war reine Neugier.«
Kyle hörte, wie die beiden Ameisen beiseite traten, um dem Megakrieger auszuweichen.
»Eliminiere ihn!« befahl der Inspektor.
Kyle zerriß mit einem einzigen Ruck alle vier Fesseln, die ihn an dem Tisch hielten, und warf sich herum.
Der Megakrieger begriff augenblicklich, daß der vermeintlich wehrlose Gefangene wach war und einen Fluchtversuch unternahm. Und er reagierte so schnell, wie Kyle erwartet hatte. Die plumpe Waffe, die er in seiner Hand hielt, versuchte, seiner Bewegung zu folgen, aber Kyle sprang gar nicht auf die Füße, sondern trat im Liegen mit aller Gewalt zu.
Sein Fuß traf das rechte Knie des Megamannes und zerschmetterte es. Der Tritt reichte nicht aus, ihn auszuschalten, aber der dunkelrote Blitz, der Kyle hatte treffen sollen, fuhr zischend in den Metalltisch hinter ihm. Kyle rollte blitzschnell herum, trat ein zweites Mal nach den Beinen des Megamannes und brachte ihn endlich zu Fall. Der Krieger stürzte, und Kyle sprang hinter ihn. Mit einem Arm umklammerte er seinen Hals und bog mit aller Gewalt seinen Kopf zurück, die andere Hand packte das Handgelenk des Megamannes und hielt es mit unerbitterlicher Kraft fest. Der Megamann bäumte sich auf. An Kraft war er Kyle ebenbürtig, aber seine Verletzung behinderte ihn. Ein zweiter dunkelroter Blitz fuhr aus der plumpen Waffe in der rechten Hand des Megamannes und traf einen der Inspektoren. Das weiße Ameisengeschöpf glühte wie unter einem unheimlichen, inneren Feuer auf und verwandelte sich dann in eine Staubwolke.
Kyle versuchte, den Megakrieger in die Höhe zu reißen, und spannte gleichzeitig alle Muskeln an, um ihn das Genick zu brechen. Es gelang ihm nicht. Statt sich weiter gegen Kyles Griff zu stemmen, warf sich der Megamann plötzlich nach vorn, um Kyle über sich hinwegzuschleudern. Kyle ließ es zu, daß ihm die Bewegung den Boden unter den Füßen riß. Als er über seinen Gegner hinweggeschleudert wurde, griff er blitzschnell nach seinem rechten Arm und entwand ihm die Waffe. Er prallte hart auf den metallenen Boden auf und feuerte den Strahler ab, noch während er sich herumdrehte. Die rote Energieflut schnitt wie eine Sense aus Licht durch den Raum und traf den Megamann, bevor er sich auf Kyle stürzen konnte. Der Megakrieger verging in einer lautlosen Explosion aus rotem Licht und wirbelndem Staub.
Fast im gleichen Moment durchschnitt ein weiterer giftgrüner Energieblitz die Luft. Kyle fuhr herum, riß seine Waffe in die Höhe und wartete auf den grauenhaften Schmerz, mit dem der Laserstrahl seinen Körper treffen und seine gesamte Energie darin entladen mußte.
Aber der Schmerz kam nicht.
Statt dessen hörte er ein prasselndes Zischen und einen spitzen, fast wehleidigen Pfiff. Überrascht wandte er den Blick - und erstarrte. Stone hatte seine eigene Waffe gezogen und gefeuert. Aber es war nicht Kyle, auf den er seinen Laser gerichtet hatte.
Völlig verständnislos bemerkte Kyle das rauchende Loch in der weißen Panzerschale des Inspektors. Die Ameise taumelte. Ihre vier Hände griffen ins Leere, sie fanden nichts, woran sie sich festklammern konnten. Langsam brach die Ameise in die Knie, blieb einen Moment lang, auf zwei Hände gestützt, reglos hocken und kippte dann zur Seite. Das Leben in ihren kalten Facettenaugen erlosch, noch bevor ihre Spinnenglieder völlig aufhörten sich zu bewegen.
Kyle stand auf und blickte Stone an. Der Governor war bis zur Tür zurückgewichen und starrte auf die tote weiße Riesenameise. Keiner von ihnen rührte sich. Stone mußte wissen, wie wenig ihm seine Waffe gegen einen Gegner wie Kyle nutzte. Doch offenbar hatte der Governor ihn gar nicht treffen wollen. Der Inspektor hatte fast am anderen Ende des Zimmers gestanden. Es gab nur eine einzige Erklärung: Stone hatte den Inspektor absichtlich getötet. Aber warum?
Kyles Finger legte sich um den Abzug seiner Waffe, und auch Stone hob die kleine Laserpistole und richtete sie auf Kyles Augen. Doch keiner von ihnen drückte ab. Sekundenlang starrten sie sich an, bis schließlich Stone seine Waffe langsam wieder senkte.
Auch Kyle schoß nicht. Er hatte diesem Mann nichts zu vergeben, und er war ihm nichts schuldig. Er glaubte jetzt zu wissen, warum Stone den Inspektor erschossen hatte. Nach ein paar weiteren Sekunden senkte auch er die Hand, drehte sich herum und ging schweigend an Stone vorbei zur Tür. Die Blicke des Governors folgten ihm, und obwohl Kyle nicht einmal zu ihm zurücksah, spürte er, wie Stone die Laserpistole wieder hob und auf seinen Hinterkopf richtete. Trotzdem ging er ruhig weiter, blieb einen halben Schritt vor der Tür noch einmal stehen und wandte sich um.
»Fünf Minuten«, sagte Stone leise.
Kyle nickte wortlos. Wahrscheinlich würde er nicht einmal mehr so lange am Leben sein, dachte er. Es gab in dieser Basis Dutzende, wenn nicht Hunderte perfekt ausgebildeter Megakrieger. Aber es war eine Chance, und während er noch dastand und Governor Stone anstarrte, spürte er abermals ein neues, völlig unbekanntes und wunderbares Gefühclass="underline" Hoffnung.