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»Ja. Aber die Garage ist verschlossen, und sie wird bewacht.«

»Na gut«, sagte Charity. »Dann kommt mit.«

»Aber wohin denn?« erkundigte sich Helen verstört.

Charity wandte sich zur Tür und machte eine einladende Geste. »Etwas tun, was ich schon lange einmal tun wollte«, erklärte sie fröhlich.

»Einen Wagen stehlen.«

14

Der Aufzug bewegte sich fast lautlos in die Tiefe, und Kyles Blick tastete prüfend über das Gelände draußen. Es war dunkel. Die meisten Lichter in dem gewaltigen, fast ganz aus Glas gebauten Komplex waren erloschen. Er sah nirgendwo eine Bewegung. Nirgends eine Wache - und warum auch? Immerhin war es ihr Hauptquartier. Niemand konnte damit rechnen, daß jemand versuchte, daraus auszubrechen.

Zu Fuß zu fliehen war völlig aussichtslos. Die Basis war einfach zu groß, um sie in wenigen Minuten zu durchqueren und im Dschungel untertauchen zu können. Kyle brauchte ein Fahrzeug. Sein Blick tastete aufmerksam über die niedrigen Gebäude, die den Glas- und Chromkomplex des Hauptquartiers umgaben, ruhte einen Moment auf den rechteckigen Betonklötzen der Raupengarage und wanderte dann weiter. Die gepanzerten Kettenfahrzeuge boten zwar Schutz, waren aber viel zu langsam und zu leicht aufzuspüren.

Dann fiel sein Blick auf die silberne Kuppel des Gleiterhangars. Im allerersten Moment kam ihm der Gedanke selbst verrückt vor - aber war er nicht in einer Situation, in der ihm gar keine andere Wahl mehr blieb, als etwas Verrücktes zu tun?

Geduckt lief er los. Der Hangar gehörte zu den wenigen Gebäuden, in denen trotz der vorgerückten Stunde noch Licht brannte. Kyle wußte, daß einer der sechs Fluggleiter Tag und Nacht in Bereitschaft war. Seine Besatzung bestand aus vier Dienerkreaturen, von denen immer zwei wach waren und zwei schliefen. Allerdings waren diese Wachmannschaften meist alles andere als wachsam. Es gab auch nichts, worauf sie achten mußten; keiner der Schüler wäre auf den Gedanken gekommen, einen Gleiter zu stehlen. Wenn er keinen Fehler beging, konnte er es schaffen.

Unbehelligt erreichte er die Halle, preßte sich gegen die kalte Metallwand und lauschte mit angehaltenem Atem. Es war noch immer ruhig. Die fünf Minuten waren längst verstrichen, aber Stone hatte sich offenbar entschieden, ihm einen längeren Vorsprung zu gewähren. Lautlos, den Rücken fest gegen das eisige Metall der Kuppel gepreßt, näherte er sich der Tür, öffnete sie einen Spaltbreit und spähte aufmerksam hindurch. Die riesige Halbkugel war taghell erleuchtet. Kyle stellte mit einem leisen Gefühl der Verwunderung fest, daß nur drei der sechs Gleiter anwesend waren. Soviel er wußte, patrouillierte stets eines der Fluggefährte über dem Fluß, der die Grenze zur Freien Zone darstellte. Aber wo waren die beiden anderen?

Plötzlich erinnerte er sich, was der Inspektor über Captain Laird gesagt hatte. Offensichtlich kam er zu spät, um sie noch zu warnen oder irgend etwas zu ihrer Rettung zu unternehmen.

Er spähte einen Moment lang aufmerksam in die Halle hinein, sah nirgendwo eine verdächtige Bewegung und schlüpfte schließlich durch die Tür. Seine nackten Fußsohlen verursachten nicht das leiseste Geräusch auf dem schimmernden Metallboden der Halle. Erst als Kyle den ersten der drei Gleiter fast erreicht hatte, wurde ihm klar, daß es hier keine Wachmannschaft gab. Offensichtlich waren die wachhabenden Ameisen zusammen mit einem der drei anderen Gleiter abgeflogen.

Lautlos betrat er den ersten Gleiter, schlich den kurzen Gang zur Zentrale entlang und blieb noch einmal stehen, um zu lauschen. Hinter dem geschlossenen Panzerschott rührte sich nichts. Trotzdem spannte Kyle alle Muskeln an und bereitete sich auf einen Angriff vor, als er die Hand hob und den Öffnungsmechanismus betätigte. Die Tür glitt summend in die Wand zurück, und die Beleuchtung in der kleinen Kommandozentrale flammte automatisch auf.

Der Raum war leer. Kyle lief blitzschnell zum Pilotensitz, ließ sich hineinfallen und verbrachte vier, fünf Sekunden damit, sich wieder in Erinnerung zu rufen, wie ein solches Fahrzeug zu steuern war. Es war ein einfaches Modell, das nur für Atmosphärenflüge gedacht war. Aber für seine Zwecke würde es reichen. Alles, was er brauchte, war eine halbe Stunde Vorsprung.

Seine Finger huschten so geschickt über die Tasten, als wären seine Kontrollen nicht für die völlig anders geformten Klauen einer Dienerkreatur geschaffen. Auf dem halbrunden Pult begannen Dutzende von kleinen, verschiedenfarbigen Lichtern zu flackern, und ein paar asymmetrisch geformte Monitore füllten sich mit Bildern und Zahlenkolonnen. Die Türen des Gleiters schlössen sich, und wenig später hörte Kyle das dumpfe Grollen der großen Elektromotoren, die das Dach der Hangarkuppel öffneten. Spätestens jetzt würde man in der Basis wissen, daß jemand in diesem Gleiter war und damit zu starten versuchte.

Aber es war zu spät, um ihn aufzuhalten. Sie würden es nicht wagen, den Gleiter über der Basis abzuschießen. Er wollte die Hand nach dem Steuer ausstrecken, als sein Blick an einem der kleinen Monitore haften blieb. Kyle runzelte überrascht die Stirn, tippte rasch einige Zahlen in die mit fremdartigen Symbolen beschriftete Zwölfertastatur daneben und las den Text, der sich auf dem kleinen Bildschirm aufbaute. Offensichtlich hatte man dieses Fahrzeug bereits auf ein Ziel programmiert. Und er wußte plötzlich auch, auf welches.

Kyle schaltete den Monitor aus, griff nach dem Steuer und startete die Motoren. Ein dumpfes Vibrieren erfüllte den Rumpf der Flugscheibe. Auf dem Pult vor ihm begann ein gelbes Licht in hektischem Rhythmus zu flackern, als jemand versuchte, über Funk Verbindung mit dem Gleiter aufzunehmen. Kyle ignorierte es, warf einen raschen Blick durch die transparente Kuppel über ihm und stellte fest, daß sich das Dach der Halle weit genug geöffnet hatte. Er startete den Gleiter und ließ ihn aus dem Hangar herausschweben. Kyles linke Hand löste sich vom Steuer und griff nach einem kleinen, an einem schwenkbaren Arm angebrachten Schaltkasten. Auf einen Tastendruck hin erschien ein dünnes, rotes, an ein kompliziert geflochtenes Spinnennetz erinnerndes Fadenkreuz auf dem transparenten Material der Kuppel. Kyle ließ sein Zentrum über den Boden der Halle unter sich wandern, visierte einen der beiden verbliebenen Gleiter an und feuerte.

Ein gleißender Energiestrahl brach aus der Unterseite des Gleiters und traf die silberne Flugscheibe. Eine Sekunde lang sah es so aus, als sauge der Rumpf des Gleiters die Energie einfach auf, dann zerriß eine grelle Explosion das Fluggefährt. Trümmer und Flammen erfüllten das Innere des Hangars, und plötzlich stieg schwarzer, fettiger Rauch auf und nahm Kyle die Sicht. Er betätigte eine Taste, und plötzlich erschien auf dem Fenster vor ihm ein Computerdiagramm des Hangars, auf dem die genaue Position der beiden verbliebenen Gleiter zu erkennen war. Ruhig verschob Kyle das Fadenkreuz ein Stück nach rechts und gab eine weitere Salve ab. Dann ließ er den Gleiter an Höhe gewinnen, drehte ihn auf der Stelle herum und legte das Fadenkreuz über den glitzernden Glaspalast des Hauptquartieres, seine ganz private Hölle, in der sie ihm seine Menschlichkeit geraubt hatten.

Aber er schoß nicht.

Er konnte es nicht.

Während unter ihm überall in der Basis Lichter aufflammten und das Heulen von Alarmsirenen erklang, ließ Kyle den Gleiter ein Stück an Höhe gewinnen. Dann rammte er den Beschleunigungshebel mit aller Kraft nach vorn.

15

Sie brauchten fast zwei Stunden, um ihr Ziel zu erreichen. Den Lastwagen zu stehlen hatte sich als leichter erwiesen, als Charity erwartet hatte; die beiden Männer, die in der Tiefgarage Wache taten, in der sich der Fahrzeugpark der Freien Zone befand, waren alles andere als aufmerksam gewesen. Und Helens Anwesenheit hatte ihr Mißtrauen völlig zerstreut. Vielleicht, dachte Charity, würden sie in Zukunft etwas weniger vertrauensselig sein - sobald es ihnen gelungen war, sich von den Fesseln zu befreien, die Skudder ihnen angelegt hatte.