Aber die Schwierigkeiten hatten erst begonnen, nachdem sie die Garage verlassen hatten. Die Straßen wurden immer schlechter, je weiter sie nach Norden kamen. Mehrere Male hatte Charity schon befürchtet, daß sie das Fahrzeug aufgeben müßten, und auf einer Strecke von zwei oder drei Meilen hatten sie sich nur im Schrittempo fahren können, weil der Asphalt von Unkraut und Wurzeln gesprengt worden war. Aber jetzt näherten sie endlich der Metro-Station, aus der Charity und Barler vor drei Tagen herausgekommen waren.
Charity gab Jean ein Zeichen, anzuhalten. Der Wald war sehr still, und sie wollte nicht, daß das Motorengeräusch oder das Scheinwerferlicht die Moroni frühzeitig warnte.
Jean lenkte den Wagen in den Schutz einer Ruine, schaltete den Motor ab und stieg aus. Skudder, Net, Helen und Gurk kletterten lautlos von der Ladefläche. Charity hatte Helen gesagt, was sie zu finden glaubte, aber das Mädchen hatte darauf bestanden, sie zu begleiten; trotz der Gefahr, in die sie sich damit begab, was Charity allerdings gut verstand. Sie hätte nicht anders gehandelt.
Trotzdem bestand sie darauf, daß Jean und Helen den Abschluß ihrer kleinen Gruppe bildeten, und schärfte ihnen ein, sofort die Flucht zu ergreifen, falls sie entdeckt oder gar angegriffen werden würden. Sie bedauerte, sich bei ihrem ersten Besuch den Weg nicht besser eingeprägt zu haben, denn in der Dunkelheit ähnelten sich die verwüsteten Straßenzüge, und die wenigen Unterschiede, die es doch gab, verwischte der Dschungel. Als sie die Kreuzung erreichten, an der sie damals mit Barler abgebogen waren, zögerte sie einen Moment unschlüssig. Dann blickte sie nach links - und sah den Gleiter.
Eine gewaltige, silbern schimmernde Scheibe hing scheinbar schwerelos zwei Handbreit über dem Boden, und aus einer offenstehenden Tür fiel kaltes, grünes Licht auf den geborstenen Asphalt. Ein zweites, gleichartiges Fahrzeug befand sich gute hundert Meter weiter entfernt. In dem blassen Lichtschimmer, der aus der offenstehenden Tür fiel, konnte Charity die schattenhaften Gestalten zahlreicher Ameisen sehen, die sich hektisch hin und her bewegten.
Lautlos schlich sie in die Deckung eines Mauerrestes und wartete, bis Skudder und die anderen ihnen gefolgt waren.
»Also, hört zu«, flüsterte Charity. »Skudder und ich gehen weiter. Ihr bleibt hier. Und ihr kommt uns nicht nach, ganz egal, was passiert.« Sie sah besonders Helen eindringlich an. »Hast du das verstanden? Du bleibst, wo du bist - außer, ihr werdet angegriffen. Sollte man euch entdecken, dann lauft weg und versucht, euch irgendwie durchzuschlagen.«
»Ich komme mit«, beharrte Helen.
Charity schüttelte entschlossen den Kopf. »Das wirst du ganz bestimmt nicht tun«, sagte sie. Helen wollte auffahren, aber Charity machte eine entschiedene Handbewegung. »Ich kann mir vorstellen, wie du dich fühlst. Aber ihr hättet keine Chance, glaubt mir. Ich bin nicht einmal sicher, daß Skudder und ich es schaffen.«
Sie sah Net und den Gnom nacheinander an. »Ihr paßt auf die beiden auf«, sagte sie. »Wenn sie irgendeinen Unsinn versuchen, dann fesselt sie.«
Sie lief los, ehe Helen oder Jean noch Gelegenheit fanden, zu widersprechen. Geduckt näherten sie sich dem Botschaftsgebäude.
»Warum hast du die beiden überhaupt mitgenommen?« fragte Skudder im Flüsterton.
Charity zuckte im Laufen mit den Achseln und erstarrte für eine Sekunde, als sie eine Bewegung wahrzunehmen glaubte. Dann sah sie, daß es nur ein Tier war, das aufgeschreckt davonhuschte, und lief weiter.
»Glaubst du, sie wären zurückgeblieben?« erkundigte sie sich. »Außerdem«, fügte sie nach einer winzigen Pause hinzu, »ist es mir so lieber. Ich bin nicht sicher, daß sie nicht doch eine Dummheit gemacht hätte.«
»Hmm«, machte Skudder. »Würde es dir etwas ausmachen, mir zu verraten, was wir hier tun? Ich meine, ich hätte gerne gewußt, warum ich gleich erschossen werde.«
»Das verrate ich dir, wenn es soweit ist«, antwortete Charity lächelnd.
Sie näherten sich dem Botschaftsgebäude von Norden aus. Eine Anzahl großer Scheinwerfer tauchten die Fassade in fast taghelles Licht. Charity schätzte, daß es ungefähr dreißig Ameisen sein mußten, die sich vor dem Eingang bewegten. Zwischen den riesigen Insektenkreaturen sah sie auch die fleckigen Tarnanzüge mehrerer Männer, darunter auch einige, die sie schon am ersten Tag in der Freien Zone gesehen hatte. Charity sagte nichts dazu, und auch Skudder schwieg, aber der Ausdruck auf seinem Gesicht verfinsterte sich.
Sie liefen um das Gebäude herum. Skudder versuchte zweimal, eine Frage zu stellen, aber Charity gebot ihm jedesmal mit einer hastigen Geste, still zu sein, und blieb erst stehen, als sie sich dem Haus bis auf zehn oder zwölf Schritte genähert hatten.
Ihr Blick glitt aufmerksam über die Rückseite des Hauses und blieb schließlich an einem der wenigen unbeleuchteten Fenster im Erdgeschoß hängen. Rasch und lautlos lief sie darauf zu, entfernte die scharfkantigen Glasreste, die noch im Rahmen steckten, und kletterte hinein. Skudder folgte ihr. Charity lief zur Tür und lauschte einen Moment, bevor sie vorsichtig die Klinke herunterdrückte und durch den schmalen Spalt spähte.
Der Korridor lag dunkel vor ihr, aber an seinem Ende war ein flackerndes, weißes Licht. Charity hörte das Geräusch harter Hornklauen auf dem Boden. Vorsichtig öffnete sie die Tür, warf einen letzten, sichernden Blick in beide Richtungen und lief dann los, fort von dem Licht und in Richtung Treppe, die am anderen Ende des Korridors begann. Skudder folgte ihr dichtauf.
Obwohl sie beide kaum ein Geräusch verursachten, kam es ihr vor, als hallten ihre Schritte so laut durch den Korridor, daß sie überall im Gebäude zu hören sein mußten. Und die wenigen Augenblicke, die sie brauchten, um die Treppe zu erreichen, schössen ihr hundert verschiedene Gründe durch den Kopf, warum ihr Vorhaben gar nicht gelingen konnte. Aber das Wunder geschah: Sie erreichten die Treppe, ohne daß sie entdeckt wurden.
»Wo willst du überhaupt hin?« fragte Skudder flüsternd.
Charity sah sich unschlüssig um, ehe sie mit einem Achselzucken antwortete.
»Ich suche das Büro des Botschafters.«
»Ich denke, du kennst dich hier aus?« fragte Skudder.
Charity machte eine ärgerliche Handbewegung und trat zwei, drei Schritte von der Treppe zurück. Sie hatten Glück. Sie fanden das Büro des Botschafters schon hinter der dritten Tür, die sie öffnete.
Charity schlich hinein, bedeutete Skudder mit Gesten, an der Tür Wache zu halten, und sah sich mit klopfendem Herzen um. Es war dunkel. Das bißchen Licht, das durch die zersplitterten Fenster hereindrang, erhellte den Raum kaum. Aber sie fand trotzdem auf Anhieb, wonach sie suchte.
Der Safe lag hinter der Wandverkleidung verborgen, die wie das meiste Mobiliar ein Opfer der Flammen geworden war. Charity riß die Reste des verschmorten Kunststoffs herunter, wobei sie einen solchen Lärm verursachte, daß Skudder die Augen verdrehte und heftig zu gestikulieren begann. Dann trat sie zurück, musterte den Safe eine Sekunde lang mit schräggehaltenem Kopf und nahm schließlich das Lasergewehr von der Schulter. Skudder starrte sie ungläubig an. »Was hast du vor?« fragte er in einem erschrockenen Flüsterton.
Charity zuckte mit den Achseln. »Ich versuche mich als Panzerknackerin«, antwortete sie spöttisch.
»Ich finde nicht, daß jetzt der richtige Moment ist, dumme Witze zu machen«, sagte Skudder verärgert. »Was zum Teufel suchen wir hier?«
»Die Frage muß lauten: Was zum Teufel suchen die Ameisen hier?« sagte Charity. »Irgendwo dort unten muß etwas sein, das verdammt viel für sie wert ist.«