Irgendwo, fünftausend Kilometer unter ihm, eine schwache Silhouette gegen die silberne Pracht der diskanischen Ringe befand sich Schnee-der-Errettung, das die Hauptdestille der Großen Harmonie barg. Es war unter Mithilfe des Demarchy erbaut worden und unentbehrlich für das Überleben der Harmonie wie auch des Demarchy. Sein Bruder hatte die Verantwortung für Schnee-der-Errettung und würde alles tun, um dessen Sicherheit zu gewährleisten. Aber wenn das Demarchy sich zu einem Angriff hier in den Ringen entschloß, konnte selbst seine „Geheimwaffe“ es nicht daran hindern, fatale Verwüstungen anzurichten. Doch entgegen dem Glauben vieler Offiziere der Streitkräfte würde das Demarchy einen solchen Angriff niemals riskieren. Djem würde niemals in der Lage sein, das zu erkennen, doch Raul würde seine Karriere dafür aufs Spiel setzen — hatte seine Karriere dafür aufs Spiel gesetzt. Das Demarchy würde sie niemals angreifen… es sei denn, es hätte das Schiff. Wenn die Große Harmonie es aber zuerst in die Hände bekam…
„Sir.“ Sandoval, der kahle Schiffskapitän, unterbrach seine Gedankengänge schüchtern. „Alles ist bereit für die Zündung. Auf Ihren Befehl…“
Raul nickte. Angesichts der außergewöhnlichen Wärme im Kontrollraum knöpfte er seine dicke Jacke auf. Schon zu lange unter Tage gewesen… Er seufzte. „Also los.“
Sandoval sank in seinen eigenen Sitz zurück und sprach Befehle, die von den beiden anderen Schiffen koordiniert wurden, in sein Kehlkopfmikrofon. Es fand keine Videokommunikation statt; diese wurde nur verwendet, um den Feind zu beeindrucken. Raul studierte die Komplexität des Kontrollraums. Gewaltige Instrumentenblöcke zogen sich an den Wänden um ihn herum hoch. Das meiste davon waren Computerartefakte aus der Zeit vor dem Krieg, installiert, um diesen Schiffen im Fall eines Kampfes eine größere Manövrierbarkeit zu verleihen. Sie bildeten einen Teil der außerordentlichen Verteidigungskraft der Großen Harmonie, speziell entworfen, speziell ausgestattet mit einem Treibstoff-zu-Masse-Verhältnis von tausend zu eins. Obwohl Raul Nakamore sich in den höchsten Ebenen der Streitkräfte bewegte, hatte er ihre Existenz doch immer als sinnlose Vergeudung lebenswichtiger Rohstoffe angesehen; aus diesem Grund war er auch bis zum heutigen Tag noch niemals an Bord eines dieser Schiffe gewesen. Aber nun hatte dieses Sternenschiff seine Einstellung verändert, wie es die gesamte Zukunft verändern konnte.
Er wurde heftig in die Polster des Sessels gepreßt, als die Flüssigtreibstoffraketen zündeten und die Schwerkraft auf konstante zwei Grav anstieg, mehr als nur ein wenig schmerzhaft für sein Knochengerüst. Er überprüfte das Chronometer auf dem Pult. Der Druck würde dreizehnhundert Sekunden lang anhalten, während sie mit einer Geschwindigkeit von sechzehn Kilometern pro Sekunde dahinschossen… und in dieser Zeitspanne siebentausend Tonnen Treibstoff verbrauchten, für die Hauptantriebe der drei Schiffe selbst, dazu für sieben Fernlenkraketen. Und trotzdem würden sie mehr als zwei Megasekunden benötigen, um Lansing zu erreichen — und vielleicht befand sich ihre Beute gar nicht dort. Raul machte es sich so bequem wie möglich und wartete. Er versuchte, nicht an das Schlimmste zu denken, sondern sich zu erinnern, was ihn so sicher gemacht hatte, daß ihre Bemühungen sich auszahlen würden…
Er hatte in seinem Büro gesessen und endlose Schiffstabellen studiert, als der vertrauliche Bericht ihn erreichte. Ein unbekanntes Schiff von unbekannter Herkunft hatte die Bahn einer Flottenpatrouille gekreuzt… und eines ihrer Schiffe zerstört, ehe es entkommen konnte. Lange Zeit hatte er den Bericht gelesen, die Wärme des Methanofens hinter ihm hatte ihn liebkost, vor ihm ausgebreitet lag die kalte Stille von Himmels Zukunft. Und dann hatte er gemerkt, daß ein Treffen einberufen worden war, seine Anwesenheit wurde erbeten.
Er verließ sein Büro und ging durch die endlosen, naßkalten, leicht rauchverhangenen Korridore des Flügels der Handelsmarine. Der Regierungskomplex machte den größten Teil des Tunnel- und Vakuolenkomplexes aus, der das Innere des Asteroiden Harmonie durchzog, welcher in der Zeit vor dem Bürgerkrieg der Asteroid Perth gewesen war, vor der Gründung der Großen Harmonie. Die Kälte begann sich einen Weg durch den dicken Stoff seiner braunen Uniformjacke zu fressen; er steckte eine Hand in die Tasche, mit der anderen stieß er sich von den Wänden ab. Er war ein kleiner Mann, kaum einen Meter neunzig groß, und ziemlich stämmig für einen Gürtelbewohner. Ein Hauch der Unverwundbarkeit umgab ihn, und es hatte eine Zeit gegeben, da hatte er die Kälte besser als die meisten anderen ertragen. Doch er war ein Berufssoldat und hatte den größten Teil seines Lebens als Erwachsener in Raumschiffen im All zugebracht, wo eine adäquate Wärme nur das kleinste Problem darstellte. In den vergangenen sechzig Megasekunden seit seiner Beförderung war er ein Administrator gewesen und hatte gelernt, daß das einzige spezielle Privileg, das ein Administrator wirklich hatte, eine doppelte Arbeitslast war.
Er ging durch gewaltige Zimmer, in denen Regierungsangestellte tätig waren, in weitere Hallen und Gänge, identisch mit denen, die er gerade verlassen hatte, schließlich in noch mehr Zimmer und Säle — wie immer beschlich ihn das Gefühl, er gehe im Kreis. Unbewußt wählte er einen Kurs, der ihn durch das Computerzentrum führte, geleitet von den Gewohnheiten der Vergangenheit, während er über die Zukunft nachdachte. Vergangenheit und Gegenwart überraschten ihn, als er sich seiner Umgebung bewußt wurde: dichtgedrängte Reihen junger Gesichter, die mit Berechnungen beschäftigt waren und manchmal aufsahen, wenn er vorüberging.
Er sah hinüber zum fernen Ende des Zimmers. Fast erwartete er, sein eigenes Gesicht zu sehen, das sich über einen mit verdrehten Buchstaben gefüllten Papierstoß beugte. Er hatte vor etwa zwölfhundert Megasekunden in diesem Raum gearbeitet, noch ein Junge, hatte seine Karriere als ein Computer vierter Klasse begonnen. Ein Computer im ältesten Sinn, denn die komplizierte Maschinerie, die den Diskanern die Bürde der endlosen Datenspeicherung abgenommen hatte, ging während des Krieges verloren. Nach dem Bürgerkrieg hatte die Große Harmonie die bittere Erkenntnis schlucken müssen, daß sie ohne präzise Daten über die sich fortwährend ändernden internen Beziehungen zwischen den größeren Planetoiden nicht überleben konnten. Und so war man zurückgesunken auf menschliche Computer; man verwendete das Unvollkommene, aber Vorhandene, um das Vollkommene, aber Nichtexistente zu ersetzen, wie man das in so vielen Fällen tun mußte.
Ein intelligentes Kind konnte lernen, einfachere Berechnungen durchzuführen, und so verwendete man auch solche Kinder, was die anderen soweit entlastete, daß sie sich komplizierterer Arbeit zuwenden konnten. Raul erinnerte sich, wie er auf einer Bank gesessen hatte, dicht zusammengedrängt mit einem anderen Jungen und einem Mädchen, damit sie sich gegenseitig wärmen konnten. Seine Nase hatte getropft, seine Lippen waren rissig und aufgesprungen, er hatte neidisch auf den Rücken seines Halbbruders Djem gestarrt, der einhundertfünfzig Megasekunden älter als er selbst und ein Computer zweiter Klasse war. Je höher man stieg, desto näher durfte man am Ofen in der Mitte des Raumes sitzen… Zu der Zeit, als Djem zur ersten Klasse gestoßen war, hatte Raul ihn erreicht und war mit Wärme und einem der wenigen Rechner, die noch funktionierten, belohnt worden.
Ihr Großvater hatte die Richtigkeit der Riemannschen Hypothesen bewiesen und wurde damit zum bekanntesten Mathematiker und vielleicht zum bekanntesten menschlichen Wesen, das jemals von Himmels Gürtel kam; dann war der Krieg ausgebrochen und hatte aus ihm einen unter zahllosen Flüchtlingen gemacht. Als der Krieg begann, hatte er gerade Ferien in den diskanischen Ringen gemacht, und seine Loyalität war fragwürdig. Doch sein mathematisches Können war unbestreitbar — und nun, zwei Generationen später, hatte das Erbe seines Genies seine Enkel in einem anderen Regime auf dieselben Pfade geführt.