„Nur durch Gehorsam erwerben wir uns das Recht zu befehlen…“ Raul ließ den Computerraum und seine Jugend hinter sich; die ständig gleich klingenden moralisierenden Ermahnungen der unsichtbaren Wandlautsprecher drangen wieder in sein Bewußtsein, zusammen mit der Kälte. Er fragte sich, wie lange es dauern würde, bis die Nachricht von dem fremden Raumschiff sich einen Weg ins Netz des öffentlichen Rundfunks gebahnt haben würde, zwischen den Gedanken des Herzens und den Vorträgen über die Dekadenz des Demarchy plaziert, und welche Form sie bis dahin wohl hatte. Er machte sich nichts aus der ständigen Einmischung in sein Leben. Er war daran gewöhnt. Es war so sehr Teil des Lebens, das er kannte, wie die Kälte. Er erkannte auch, daß ein bestimmtes Ziel in der Medienberichterstattung lag, nämlich, die Leute abzulenken von der Kälte und dem endlosen Einerlei ihrer täglichen Arbeit, ihres täglichen Lebens, ihr Gefühl für die Einheit und die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft zu stärken.
Doch er fühlte keinen Groll gegen die Rundfunkanstalten, noch nahm er sie weiterhin ernst. Schon vor langer Zeit hatte er erkannt, daß sie ebenso Propaganda waren wie die grellen und unharmonischen Vorführungen des Demarchy… Des Demarchy, das noch immer in Wärme und Komfort lebte, dank den Destillen der Großen Harmonie, das jedoch verhinderte, daß die Große Harmonie an diesem Komfort teilhatte. Sie lehnten es ab, die Kernspaltungsbatterien zu verkaufen, die immer noch die Hauptenergiequelle des Demarchy für Wärme, für Licht, für den Schiffverkehr, für die neuen Fabriken, die immer noch arbeiteten, bildeten. Keine der noch existierenden Fabriken arbeitete in der Großen Harmonie mit mehr als einem Prozent Effizienz — ausgenommen die Destillen —, und die einzige Quelle für Licht und Wärme war das ineffiziente Verbrennen von Methan (da die Ringe einen Überschuß an organischen Stoffen hatten, was aber auch alles war, worüber sie verfügten).
Raul schob den Gedanken beiseite, wie er auch den Gedanken beiseite schob, daß alle Menschen seines Volkes, alle Menschen von Himmels Gürtel, dem Untergang geweiht waren. Bedauern war nutzlos. Haß war vergeblich. Raul sah der Wahrheit ins Antlitz — und tiefer. Er konnte die Straße deutlich vor sich sehen, sah, wie das Vorwärtskommen schwieriger und anstrengender wurde, bis es schließlich unmöglich wurde. Doch er bewegte sich vorwärts, wenn auch nur von Zeit zu Zeit, schrittweise, gestärkt durch das Wissen, alles menschenmögliche getan zu haben.
Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte er jedes Wort der Medien absorbiert und jedes Wort geglaubt. Da hatte er das Demarchy mit dem blinden Eifer der Jugend gehaßt, und da er jung und kompetent und entbehrlich war, hatte man ihn mit einem Sabotageauftrag in das Hoheitsgebiet des Demarchy geschickt. Er war gescheitert. Doch zu seiner grenzenlosen Demütigung hatte die Perversion der medienregierten demarchistischen Pöbelherrschaft einen Helden aus ihm gemacht, der sich die leidenschaftliche letzte Denunziation ihrer eigenen Aggression zu Herzen nahm… und das Demarchy hatte ihn nach Hause geschickt, einen beschämten Botschafter des guten Willens, damit er Verhandlungen über die Konstruktion einer Destille eröffnete, die sich sowohl für das Demarchy als auch für die Große Harmonie auszahlen würde.
Doch die Beziehungen zwischen dem Demarchy und der Großen Harmonie waren nie über diesen Akt der Kooperation hinausgegangen, dessen einziger Zweck in gemeinsamen Notwendigkeiten lag. Unabhängige Demarchy-Gesellschaften verletzten immer noch diskanisches Hoheitsgebiet, und nur ihre allgemeine ökonomische Schwäche verhinderte ein ungesetzliches Ausbeuten der Ressourcen der Großen Harmonie ihrerseits. Die Große Harmonie selbst denunzierte das Demarchy unaufhörlich und beschuldigte es wegen der eigenen kärglichen Existenz.
Doch aufgrund seiner Erfahrungen im Demarchy hatte er den Glauben für immer verloren, Gut und Böse seien einfach schwarz und weiß gezeichnet und jede Frage habe eine simple Antwort. Und nachdem er erkannt hatte, daß das Demarchy nicht durch und durch böse war, hatte er auch erkannt, daß man es nicht allein verantwortlich machen konnte für das elende Leben der Harmonie. Er hatte jenes größere, indifferente und unvermeidbare Schicksal gesehen, das die Große Harmonie ebenso wie auch das Demarchy die Straße ohne Rückkehr hinabzog.
Und als er zu der Erkenntnis gelangte, daß es kein Zurück gab, keinen Ausweg, war er von der Verteidigungs- zur Handelsmarine übergewechselt, um dort zu arbeiten, weil er glaubte, dort am effektivsten arbeiten zu können und somit der Großen Harmonie ihren Weg auf der Straße des Untergangs so leicht wie möglich zu machen.
Endlich erreichte Raul die Nabe des Regierungskomplexes, fühlte, wie die Finger alter Macht nach ihm griffen, als er plötzlich in die Unmittelbarkeit des offenen Raumes hinaustrat. Über ihm war die Decke amorph und dunkel, doch er wußte, die Oberfläche bestand aus durchsichtigem Kunststoff, nicht aus solidem Stein. Einst hatte sie sich zu den Sternen und zu der Majestät von Diskus geöffnet — als die Ringe von Diskus noch die Lebensquelle für den gesamten Gürtel gebildet hatten. Doch nun war der durchsichtige Dom mit einer undurchsichtigen Schneedecke bedeckt; die Kuppel hatte zuviel Wärme entweichen lassen.
Er bahnte sich einen Weg durch die Vielzahl anderer schwebender Regierungsarbeiter, die meisten von ihnen Marineangehörige wie er selbst. Automatisch beantwortete er den Salut ihrer erhobenen Hände, sein Verstand eilte ihm voraus in den Verhandlungssaal, wo die anderen Hände auf den Beginn der Konferenz mit dem Herzen warteten.
Raul setzte sich still in seinen Stuhl und wartete, bis die Teilnehmer des Treffens zur Ordnung gerufen werden würden. Er saß als jüngster Offizier, der den Rang einer Hand der Harmonie erreicht hatte, am Ende des Tisches, der vom Herzen am weitesten entfernten Position. Er nickte Lobaschewski zu seiner Rechten zu, wonach er die Reihen der Offiziere und Offiziersanwärter eingehend musterte. Ohne Überraschung nahm er zur Kenntnis, daß sie sich wie üblich in zwei verschiedene Fraktionen gespalten hatten — die Verteidigungsfraktion auf der einen, die Handelsfraktion auf der anderen Seite. Wie immer hatte er sich zur Handelsfraktion gesetzt. Als er das Ende der Tafel sah, die Spitze des Tisches, die eine Art Niemandsland zwischen beiden Parteien bildete, lächelte er unmerklich.
Ein einziges Wort unterbrach die geflüsterten Mutmaßungen; Raul wandte seine Aufmerksamkeit dem Kopf des Tisches zu, erhob sich mit dem Rest, um der Ankunft des Herzens Tribut zu zollen — dem Triumvirat, welches das Auf und Ab der Macht in der Großen Harmonie kontrollierte. Chatichai, Khurama und Gulamhusein, wie ein vielfacettiger Hindugott, ununterscheidbar untereinander oder inmitten ihres Stabs in der schlichten Gemeinsamkeit ihrer Kleidung, aber unverwechselbar getrennt durch eine undefinierbare Selbstzufriedenheit — und jenen nicht harmonierenden Ambitionen, die sie an die Spitze gebracht hatten und sie nun um ihre Position kämpfen ließen. Raul kannte die Arten von Streß, die an ihnen nagten, und war dankbar, sich bereits über den Pegel seiner eigenen Ambitionen erhoben zu haben.
Die drei Männer am Kopf des Tisches setzten sich langsam auf ihre Stühle, ein Zeichen für die Offiziere, dies ebenfalls zu tun.
„Ich nehme an, Sie alle haben die Mitteilungen gelesen, auf Grund derer Sie hier sind…“ — Chatichai sprach, wie immer ergriff er die Initiative — „… und so nehme ich auch an, Sie wissen alle, daß unsere Streitkräfte vor fünfzig Kilosekunden ein Schiff entdeckt haben, das mit nichts vergleichbar ist, was noch in diesem System existiert…“ Er machte eine Pause und senkte den Blick; Raul erkannte ein Bandaufzeichnungsgerät auf dem Tisch vor ihm. „Dies ist ein Report von Kapitän Smith, der den Oberbefehl über die Patrouillenflotte hatte, die das Schiff entdeckte.“ Er drückte einen Knopf.