Raul driftete gegen den Tisch; er lauschte gespannt, der Ausdruck der Gesichter entlang des Tisches wechselte schlagartig. Man hatte den Eindringling als ein Fusionsschiff des Demarchy angesehen, das diskanisches Hoheitsgebiet verletzte. Dann, als man sich näherte und die Stimme einer Frau auf die Anfrage antwortete, hatte man erkannt, etwas vollkommen Unerwartetes entdeckt zu haben. Das Schiff war vor ihnen geflohen, es beschleunigte mit dem unvorstellbaren Wert von zehn Metern pro Sekundenquadrat. Es hatte eine der eigenen Einheiten, die sich näherten, allein mit der tödlichen Abstrahlung der Schubdüsen fast mühelos zerstört. Doch sie hatten das Feuer auf das fliehende Schiff eröffnet und eine kleine, expandierende Trümmerwolke gesehen…
Ein unterschwelliges Gefühl von Ärger und Freude machte sich am Tisch breit. „Warum, zum Teufel, gab Smith der Frau keine Hafenkoordinaten, als sie ihn darum bat?“ fragte Lobaschewski neben ihm murmelnd. „Schien verdammt aussichtsreicher, als das Schiff gewaltsam zu nehmen. Ein Schiff verloren — geschieht ihm recht.“ Er starrte über das Niemandsland zur Opposition hinüber. Raul behielt seine ausdruckslose Miene bei.
Chatichai hob sowohl den Blick als auch seine Stimme. „Die Frage, Gentlemen, ist nun nicht etwa, ob Kapitän Smith gemäß den Interessen der Großen Harmonie handelte, sondern, welche Aktionen weiterhin bezüglich dieses Schiffes unternommen werden sollten. Ich glaube, niemand hier will bestreiten, daß dieses Schiff aus einem anderen System kommt…“ Er machte eine Pause, doch niemand bezweifelte es. „Und ich glaube, wir müssen niemandem im Detail darlegen, was ein solches Schiff für unsere Ökonomie bedeuten würde… oder für die des Demarchy, wenn es an unserer Statt das Schiff in die Hand bekommt.“ Eine weitere Pause. „Aber ist es vorstellbar oder wahrscheinlich, dieses Schiff in die Hand zu bekommen? Und andererseits — welche Maßnahmen sollten getroffen werden, um zu verhindern, daß es in die Hände des Demarchy fällt?“
Raul betrachtete den matten Glanz der Plastikoberfläche des Tisches, er sah durch sie hindurch, während er mit halber Aufmerksamkeit der Debatte lauschte, die am Tisch entbrannt war: Das Schiff war beschädigt… nichts, was Himmels Gürtel ihm entgegensetzen konnte, war in der Lage, es einzuholen. Das Schiff könnte sich wegen des Angriffs das Demarchy aussuchen… es gab keinen Grund anzunehmen, das Schiff würde nun noch irgend jemandem im Gürtel vertrauen. Das Schiff war die Lösung für das Überleben der Harmonie… das Schiff war ein Phantom, dessen Verfolgung nur wichtige Rohstoffe vergeuden würde, deren Verlust man sich nicht leisten konnte…
Raul sah auf und ordnete seine eigenen Gedanken. Er sprach naturgemäß erst dann, wenn er alle Seiten einer Frage betrachtet hatte; schon vor langer Zeit hatte er gelernt, daß selektive Stille ein wesentlich effektiveres Werkzeug als eine laute Stimme war. Seit seiner Beförderung zur Hand hatte er sie mit sehr gutem Erfolg benutzt, um sich die Reputation zu erwerben, zu bekommen, was er wollte, um die Effizienz der Handelsmarine zu steigern und den Einfluß der Handelsfraktion zu stärken. Als er eine Lücke entdeckte, griff er in die Diskussion ein. „Wie Sie alle wissen, habe ich mich von Anfang an gegen den Aufbau und Unterhalt der schweren Streitkräfte ausgesprochen…“ Er warf einen Blick über den Tisch, sah Ablehnung auf der anderen Seite, fühlte Lobaschewskis Zustimmung neben sich, die sich über die ganze eigene Seite ausbreitete. Zusammen mit einer Minderheit der anderen war er der Ansicht, das Demarchy verfüge über keinerlei ernsthafte Faktoren zur Bedrohung der Sicherheit der Großen Harmonie und die Ressourcen, die zum Unterhalt der Verteidigungsflotte verwendet wurden, dienten den Interessen der Großen Harmonie besser, würde man sie zum Handel innerhalb der Ringe und auch zum Handel mit dem Demarchy verwenden. Denn er wußte, der Status quo bedeutete eine Verschlechterung, und absolut nichts konnte diesen Befehl rückgängig machen. „Doch dies ist eine Situation, die ich niemals vorhersah. In dieser Situation, das gebe ich zu, bin ich glücklich, daß wir über gut ausgerüstete Streitkräfte verfügen… und ich bin bereit, sie zur Verfolgung dieses Schiffes heranzuziehen…“ Ein angesichts dieses Verrates indigniertes Stimmengewirr unterbrach ihn; er verfolgte, wie der Ärger sich langsam in Überraschung verwandelte. „Ich weiß, es ist ein Spiel mit hohen Risiken. Ich weiß, es wird vielleicht vergeblich sein; die Umstände, die dem Einfangen dieses Schiffes entgegenstehen, sind verdammt hoch. Aber es ist nicht unmöglich: Das Schiff ist beschädigt, und wir wissen nicht, in welchem Ausmaß. Vielleicht liegen sie im Moment irgendwo in Lansing, wenn Lansing noch existiert; es ist einen Verlust wert, das herauszufinden. Wir haben diese verdammte Schlachtflotte, ob wir es wollen oder nicht — laßt sie uns einem vernünftigen Zweck zuführen! Wenn wir soviel über das Raumschiff wissen, können Sie Ihren Kopf darauf verwetten, das Demarchy weiß ebensoviel — und ist ebenso interessiert. Ich glaube, sie sind ohne das Schiff keine Gefahr, aber wenn sie das Schiff in die Hand bekommen und wir nicht, wird alles, was wir in Zukunft unternehmen, einen rein akademischen Charakter haben.
Ich bin der Meinung, die am schnellsten bereitzustellenden Einheiten sollten sofort startklar gemacht werden, um das Schiff in Richtung Lansing zu verfolgen. Und ich bitte darum, das Kommando zu bekommen…“
Als der Druck der Beschleunigung plötzlich nachließ, verblaßte in seiner Erinnerung die Schärfe der letzten Debatte, die angestaute Spannung fiel von seinem Körper ab. Am Ende hatte er gewonnen, da es niemanden im Saal gegeben hatte, der seine Aufrichtigkeit oder seine Entschlossenheit in Frage stellte, jedes gesteckte Ziel auch zu erreichen. Daher befanden die Schiffe sich nun im freien Fall nach Lansing. Und wenn die Lebenserhaltungssysteme durchhielten, würden sie etwas finden — alles oder nichts. Die Karten waren aufgedeckt; die Große Harmonie hatte auf die allerletzte Chance gesetzt, die sie jemals haben würde.
Ranger (Hoheitsgebiet Demarchy)
+ 553 Kilosekunden
„Nein, das wird auch nicht funktionieren. Sie können erkennen, daß es kein Vorkriegsschiff ist.“ Bird Alyn schüttelte den Kopf; ihr Haar, zu zwei kurzen Pferdeschwänzen zusammengebunden, stand von ihrem Kopf ab wie Seegras.
„Dann gibt es nichts mehr, was mir vorerst einfallen würde.“ Bertha sah fragend von Gesicht zu Gesicht. Clewell saß vorschriftsmäßig angeschnallt in seinem Sitz, Bird Alyn und Shadow Jack räkelten sich in der Luft, völlig sicher angesichts des Fehlens jeglicher Gravitation. Die fünftägige Reise über sechzig Bogensekunden am Orbit von Diskus entlang hatte sie verändert: Körper und Haar glänzten sauber, ihre Gestalten steckten in Kattunhosen und weichen Pullovern. Doch die Beschleunigung von einem Grav hatte sie zu Boden gestreckt wie Fliegen, immer noch winselten sie wegen ihres Muskelkaters und der Erinnerung. Und noch andere Erinnerungen spiegelten sich dunkel in ihren Augen und schnellen, nervösen Worten, Erinnerungen an eine Vergangenheit, bei deren bloßer Vorstellung Bertha glücklich war, sie nie kennengelernt zu haben.
„Ich sage immer noch, du solltest dem Demarchy den Rücken kehren.“ Shadow Jack streckte einen dünnen, bronzefarbenen Fuß aus und streichelte Rusty flüchtig, als diese vorüberschwebte. „Wir hätten zu den Ringen gehen sollen. Es ist erheblich einfacher, dort zu stehlen. Wenn du mich fragst…“
„Ich frage nicht… danach.“ Bertha lächelte leicht. „Ich möchte handeln, nicht stehlen… Ich weiß bereits, wie ,sicher’ es in den Ringen von Diskus ist, Shadow Jack.“
„Aber das Demarchy ist schlechter. Sie haben eine höhere Technologie.“