Sie folgten dem Hauptkorridor entlang eines Seils, dessen Wände teilweise von den rauhen Handschuhen der Raumanzüge schon ganz abgegriffen waren. Vor sich konnte sie das Ende des Tunnels erkennen und dahinter einen freien Raum, durch den sich ein seltsames Gespinst zog. Neugierig schwebte sie bis an den Rand, wo sie verharrte.
„Oh…“ Ihr erstauntes Ausatmen wurde zu einem Seufzen. Sie stand neben dem bereits stehenden Shadow Jack, wie gebannt von diesem im Stein gefangenen Feenzauber. Vor ihnen öffnete sich eine Vakuole, einen Kilometer oder mehr im Durchmesser: eine unglaubliche, unnatürliche Grotte, angefüllt mit den leuchtenden Stacheln kristallener Gewächse, schlank und nadelspitz, von deren Oberfläche zahllose Regenbogen reflektiert wurden. Die Luft in der Höhle war durchzogen von einem Gespinst, wie seidene Fäden einer unglaublichen Spinne…
Bilder begannen sich in ihrem Kopf zu formen. Sie erinnerte sich daran, dies war die Stadt, das Herz des Lebens im Mekka-Asteroiden — und die kristallenen Stacheln waren ihre Türme, die an allen Seiten auf dem Boden standen… oder von der Decke herabhingen. Warum fallen sie nicht…? Ihr Verstand kreiste, sie fühlte sich fallen, spürte Hände, die ihre Arme umklammerten. Sie beruhigte sich wieder, ihre Füße berührten den Sims. Zornig richtete sie ihren Blick wieder in die gigantische Höhle. Unter dem Gespinst bewegten sich Menschen, so winzig wie Fliegen, und Leuchtketten waren durch den weiten Raum gespannt. Zu Boden und Decke hin wurden alle Türme breiter; sie folgten dem kaum merklichen Sog der Schwerkraft. Die Gebäude an den geschwungenen Seiten der Vakuole waren kürzer, gedrungener, für größere Belastungen entworfen. Die Türme bebten unmerklich in den kreisenden Strömen der Ventilation, sie hatten keine solide, kristalline Oberfläche, sondern bestanden nur aus kolorierten Stoffbahnen, die man über ein metallenes Rahmenwerk gespannt hatte.
„Vor dem Krieg war das hier eine Modellstadt.“ Sie erkannte, daß der Mann von der Regierung sie am Arm hielt, den er kommentarlos wieder freigab. „Es war ein Spielzentrum, aber heute spielen wir praktischere Spiele damit. Die meisten der Türme gehören Kaufleuten oder Handelsgesellschaften.“ Der Mann löste seine Helmklammern und nahm ihn ab. Er sah sie erwartungsvoll an. „Die Luft hier drinnen ist ausgezeichnet.“
Sie griff nach oben, allerdings nur, um ihr Außenmikrofon einzuschalten. Ihre Haut kribbelte, sie sehnte sich nach der Berührung seiner Augen. „Vielen Dank“ — sie gab sich große Mühe, unsicher zu klingen —, „aber ich… warte lieber noch etwas.“ Shadow Jack, der keinen Lautsprecher hatte, blieb stehen und ließ seinen Blick über die Stadt schweifen. Er war nur zu gern bereit, Blindheit und Taubheit vorzutäuschen. „Können Sie uns sagen, wer von denen da unten uns Wasserstoff verkaufen kann?“
„Wasserstoff?“ Sein wandernder Blick sog sich an ihrer dunklen Sichtscheibe fest. „Ich glaubte, Sie wollten Luft. Oder Wasser.“
„Wollen wir auch. Wir brauchen Wasser — aber wir haben Sauerstoff. Daher brauchen wir offensichtlich noch Wasserstoff.“
„Oh.“ Sein Gesicht entspannte sich akzeptierend. „Offensichtlich… Wissen Sie, ich treffe nicht oft eine Frau, die durch das All reist. Ist das in Lansing üblich?“
„Dort ist die ganze Raumfahrt nicht mehr üblich.“ Plötzlich erinnerte sich Bertha daran, daß die bernsteinfarbenen Augen dem Gegner gehörten. „Wenn Sie mir vielleicht die Büros der Destille zeigen könnten?“
„Dort unten…“ — er deutete hinab — „…diese Reihe grüner Punkte am Boden, in diesem Bezirk sind jede Menge Büros von allen möglichen Destillen. Tiriki, Flynn, Siamang…“
„Destillen? Gibt es denn mehr als eine?“ Hätte ich das wissen müssen? Sie fluchte unter ihrem Helm.
„Aber sicher.“ Doch er lächelte tolerant. „Sie befinden sich im Demarchy, hier herrscht das Volk. Wir mögen keine monopolistischen Praktiken. Das würde den Leuten gar nicht gefallen… das weiß ich mit Bestimmtheit. Darf ich Sie herumführen?“
„Nein, wirklich…“
„Das ist das mindeste, das ich tun kann, wo Sie schon soweit gekommen sind.“ Er steckte zwei Finger in den Mund und pfiff dreimal schrill. Sie erschrak. Er wandte sich wieder an sie und überraschte sie mit einer knappen, entschuldigenden Verbeugung.
„So ruft man hier ein Taxi. Die Manieren auf Mekka gehen langsam, aber sicher zum Teufel… Der Himmel wird zur Hölle.“
Er lachte seltsam, als hätte er selbst nicht erwartet, das Gesagte laut auszusprechen. „Ich selbst bin von Toledo.“
„Was… äh, sagten Sie, führen Sie für Regierungsarbeiten aus?“ Sie sah unbehaglich über den Rand. Die Frau aus dem Zug war verschwunden. Warum bleibt er nur bei uns?
„Ich bin Unterhändler, Verhandlungsführer. Ich bemühe mich, das letzte Überbleibsel der Zivilisation, das noch existiert, zu retten.“ Wieder das kurze, schmerzliche Lächeln. „Ich regle Streitigkeiten, arbeite Handelsverträge mit aus… und schaue mir unerwartete Besucher an.“
Sie drehte sich ein wenig um und erstarrte fast, als sie den Kameramann sah, der aus dem Tunnel herauskam. „Shadow Jack!“ Sie packte ihn am Arm. „Bleib bei mir! Geh nicht weg!“
Die Stimmen umschlossen sie wie ein Käfig. „… in diesem heruntergekommenen Schiff?“
„Mit wem werden sie ihren Handel abschließen?“
„Wieviel…“
„Was haben sie…“
Medienmänner und neugierige Einwohner umkreisten sie, bildeten einen Wall um sie herum, plappernd und einander unterbrechend. Sie sah, wie der Mann von der Regierung beiseite gedrängt wurde, als das Lufttaxi ankam und am Rand stoppte. Sie stieß sich darauf zu und gestikulierte in Richtung Shadow Jack. Es hatte ein Verdeck und war propellerbetrieben, und es wurde von einem müde aussehenden jungen Mann von Hand gesteuert. „Wohin?“
„Zu… zu Tiriki. Aber rasch.“ Sie duckte sich unter den Baldachin des Fahrzeugs, spürte die Fußstütze unter sich, sah überall reflektierende Kristalle. Shadow Jack folgte ihr. Das Taxi sank hinaus und abwärts, weg von den aufdringlichen Leuten am Tunnelende.
„… Torgussen!“ hörte sie den Regierungsangestellten gerade noch ihren Namen rufen.
Sie blickte zurück, ihre Hand griff zum Helm, befingerte ihn unwirsch, zog ihn schließlich ab. Sie sah, wie sein Mienenspiel sich binnen weniger Minuten drastisch änderte… Unglaube… Erinnerung… Verlust… Aufhören! Sie selbst erinnerte sich, aber es gab nichts, an das sie sich hätte erinnern können… Eric ist tot! Sie klammerte sich an einen Stützpfeiler des Baldachins und genoß die sanfte Brise, die mit ihrem hellen, lockigen Haar spielte und ihr heißes Gesicht kühlte. O Gott, wie oft wird das noch geschehen? Shadow Jack hatte sich über den Rand hinausgebeugt und sah nach unten, dann seitwärts, als sie an der künstlichen Sonne in ihrem Glaskäfig vorbeikamen, die im Zentrum der Höhle schwebte. Sie ließ sich langsam in den Sessel fallen, zwang ihre Sinne dazu, die Umgebung der Kaverne aufzunehmen und die Vergangenheit ruhen zu lassen.