„Für einen Soziologen hast du verdammt wenig über Motivation gelernt, Eric van Helsing.“ Zornig, weil er alles ruiniert hatte — und weil sie wie eine Närrin auf ihn gewartet hatte —, riß sie sich los und rannte fast über den endlosen Schotterhof, um von der Hitze in die kühle Zuflucht im Innern des nächstgelegenen Gebäudes entkommen zu können. Dort blieb sie still stehen, kämpfte ihre aufsteigenden Tränen nieder und hörte, wie er hinter ihr durch die Tür kam.
Jemand betrat den Raum, Bertha nahm den Geruch von Äpfeln wahr. Sie hielt Ausschau nach Claires glattem, rundem Mondgesicht… und sah Bird Alyn, dürr, braun und ungeschickt in der hohen Schwerkraft, eine Dryade in einem rosafarbenen Pullover und Blue Jeans, Blumen im Haar… Bird Alyn, die sich gegenwärtig um die Hydroponik kümmerte, nicht Claire.
Shadow Jack räkelte sich, als Bird Alyn sich neben ihm auf den Teppich sinken ließ, ihre Pfirsichwangen schimmerten rosenrot. Bertha wandte sich wieder dem Schirm zu, sie verbarg ihr Lächeln.
„…möchtest du ein paar Äpfel?“
„Oh, danke, Bird Alyn.“ Er lachte selbstbewußt. „Du denkst immer an mich.“
Sie murmelte fragend etwas.
„Was ist los mit dir? Nein! Wie oft muß ich dir das noch sagen? Geh raus hier, laß mich allein!“
Schmerz zog Berthas Magen zusammen. Sie hörte, wie Bird Alyn sich aufraffte und weglief. Auf der Türschwelle stolperte sie. Bertha drehte den Sitz und starrte Shadow Jack an, der ihren Blick erwiderte, während er sich aufrichtete.
„Vielleicht geht es mich nichts an, Shadow Jack, aber was, zum Teufel, ist mit dir los?“
„Nichts ist mit mir los! Glaubst du denn, jeder müßte so wie ihr sein? Das stimmt nicht, ihr seid ein verdammter, perverser Haufen!“ Seine Stimme bebte. „Ihr macht mich krank.“ Er stürmte aus dem Raum. Bertha konnte hören, wie er mit raschen Schritten die Treppe hinabeilte.
Bertha blieb still sitzen und umklammerte mit den Händen die Lehne des Sessels. Sie fragte sich, woher sie die Kraft zum Aufstehen nehmen sollte… Rusty schmiegte sich schnurrend an ihre Beine. Mit steifen Bewegungen griff sie hinab und hob die Katze in ihren Schoß und hoffte auf den Augenblick, an dem Himmel nur noch ein verlorener Stern am unermeßlichen Firmament sein würde. „Rusty, du bist die einzige, auf die ich im Augenblick noch zähle. Was wäre ich ohne dich?“ Rustys winzige, rauhe Zunge küßte zweimal kurz ihre Handflächen, eine versöhnliche Geste. „O Rusty“, flüsterte sie, „du stempelst uns alle zu verachtenswürdigen Toren.“ Langsam erhob Bertha sich und betrachtete den verlassenen Raum.
Schatten huschten geräuschlos über die Fliesen, die feucht und grün waren wie das Wasser des Traummeeres. Bird Alyn schluchzte lautlos auf den hexagonalen Platten, von den herabhängenden Fingern eines Farns liebkost. „… nicht fair, das ist einfach nicht fair…“ Ihre Liebe war eine einzige Folter, da sie sich nur von Träumen nähren konnte. Er berührte sie niemals, strich ihr niemals über das Haar… liebte sie niemals, und doch konnte sie auch nicht aufhören, nach seiner Liebe zu dürsten.
Sie hörte, wie er das Labor betrat, und das Schluchzen blieb ihr in der Kehle stecken. Sie richtete sich mit geschlossenen Augen auf, salzige Tränen tropften ihr vom Kinn herab.
„Nicht weinen, Bird Alyn. Das vergeudet Wasser.“ Shadow Jack stand vor ihr, die Hände in die Seite gestemmt, und betrachtete ihr tränenverschmiertes Gesicht.
Sie öffnete die Augen und sah ihn durch tränenbenetzte Wimpern an, fühlte noch mehr Tränen in sich aufwallen. „Wir haben… genügend Wasser, Shadow Jack.“ Elend und Schmerz schnürte ihr fast den Atem ab. „Wir sind nicht auf Lansing. Hier ist alles anders.“
Seine Augen verneinten dies. Er runzelte die Stirn, sagte aber nichts.
Sie wandte sich von ihm ab. „Aber ich bin nicht… ich weiß, ich bin gewiß nicht… Warum mußte mir das passieren? Warum bin ich so häßlich, wo ich dich doch so liebe?“
Er ließ sich neben sie auf die Bank fallen und zog ihre Hände, eine verkrüppelt und eine perfekt, weg von ihrem Gesicht. „Bird Alyn, das bist du nicht! Du bist nicht… du bist wunderschön.“ Sie sah ihr Spiegelbild in seinen Augen, das ihr verriet, daß er die Wahrheit sprach. „Aber… du kannst mich nicht lieben.“
„Ich kann nichts dafür… wie soll ich es denn ändern?“ Sie fuhr ihm mit ihren nassen Fingern über das Gesicht. „Ich liebe dich.“
Er umklammerte sie rauh, schloß seinen Griff hinter ihrem Rücken und zog sie fest an sich. Sie strampelte überrascht, doch sein Mund beendete ihr Weinen und dann auch ihre hilflosen Bewegungen. „… liebe dich, Bird Alyn… für immer und ewig… weißt du das denn nicht?“
Ihre ausgebreiteten Arme umklammerten seine Schultern, zogen ihn tiefer in ihren Traum, Freude erfüllte sie wie ein Lied…
„Nein…“ Plötzlich wich er zurück und ließ sie los. Er lehnte sich gegen die kalten Fließen und rang nach Luft. „Nein. Nein. Wir können nicht…“ Seine Hände ballten sich zu Fäusten.
„Aber… du liebst mich doch…“ Bird Alyn griff verwirrt und ratlos nach ihm. „Warum können wir nicht, Shadow Jack? Bitte… bitte, Shadow Jack. Ich habe keine Angst davor…“
„Was verlangst du von mir? Soll ich dich schwanger machen?“
Sie krampfte sich zusammen, schüttelte den Kopf. „Das muß nicht passieren.“
„Doch, und du weißt es genau.“ Er beugte sich nach vorn. „Möchtest du das Baby in dir wachsen fühlen und dann zusehen, wie es geboren wird… ohne Arme, ohne Beine oder ohne… Damit wir es verstoßen wie meine Mutter mich? Wir sind defekt! Und ich werde niemals zulassen, daß dir so etwas widerfährt!“
„Aber soweit wird es nicht kommen, Shadow Jack! Hier auf dem Schiff ist alles anders. Sie haben eine Pille, mit der man gar nicht schwanger werden kann. Sie würden uns…“ Sie kam näher und strich durch sein mitternachtsschwarzes Haar. „Eine einzige solche Pille hält sehr lange vor.“
„Und wenn sie wieder abgeflogen sind?“
„Wir… wir hätten dann immer noch unsere Erinnerungen. Wir wüßten es, wir könnten uns erinnern, wie es ist, einander zu berühren, zu küssen, einander zu h-halten…“
„Und was würde mich daran hindern, dich wieder zu berühren und zu küssen und dich zu halten, auch wenn ich es besser wissen sollte?“ Verzweiflung lag in seinem Blick. „Ich könnte es nicht. Wenn ich dich nie wiedersehen würde… aber das werde ich. Ich werde dich jeden Tag sehen, mein ganzes Leben lang, und wie könnte ich mich dann zusammennehmen? Wie du? Es würde geschehen.“
Sie schüttelte flehend den Kopf, ihr Gesicht glühte, Tränen der Hoffnungslosigkeit brannten in ihren Augen.
„Ich kann es nicht zulassen, Bird Alyn. Nicht jetzt. Niemals. Ich könnte es nicht ertragen, was es mir antun würde… was es dir antun würde. Warum haben wir nur jemals dieses Schiff gesehen? Warum geschah das uns? Es war alles in Ordnung, bis…“
Sie griff sanft nach seiner Hand, umklammerte sie, braune Haut auf bronzefarbener Haut. Wegen dieses Schiffes würde ihre Welt leben… und seinetwegen würde nichts mehr in Ordnung sein, was ihr eigenes, persönliches Leben anbelangte. Irgendwo hörte sie Wasser tropfen, wie Tränen. Eine verdorrte Blüte fiel auf die kalten Kacheln zwischen ihnen.
Bertha verließ das Labor so lautlos wie sie gekommen war und ging schweigend die Treppe hoch.
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