Bertha sah ihm nach, wie er die Treppe hinunterhangelte. In ihr war eine Kälte, die die entschuldigenden Worte, die ihr auf der Zunge lagen, ungesagt bleiben ließ.
„Bertha… würdest du… willst du die Destille wirklich… zerstören?“ flüsterte Bird Alyn unglücklich.
Bertha sah ihr entsetztes, furchtsames Gesicht. „Nein, natürlich nicht, Bird Alyn, das würde ich nicht tun. Ich bin nicht wirklich eine… eine Schlächterin.“
Bird Alyn nickte, blinzelte und manövrierte rückwärts zur Tür.
Clewell rieb sich den Bart. „Warum verhältst du dich dann so, Bertha? Das war auch für mich ein wenig zu überzeugend. Oder ist es kein Schauspiel mehr?“
Scham ließ ihr Gesicht glühen und vertrieb die Kälte aus ihr. „Das weißt du genau, Pappy! Aber dieser verdammte Abdhiamal…“
Clewell löste seinen Sicherheitsgurt und hob den Kopf ein wenig. „Er ist kein so übler Kerl… für einen ,verdammten Gecken’. Er hat sich unter einem Grav verdammt gut gehalten… bei allem, was ihm zugemutet wurde.“ Was bedeutete, daß sie ihm seine Lage nicht gerade vereinfacht hatte.
„Er ist eine Null. Er hatte nur Glück, daß er sich nicht selbst verkrüppelt hat.“ Sie sah zornerfüllt weg.
„Er ist ein stolzer Mann, Bertha. Er selbst wird es vielleicht nicht so nennen… aber jeder, der aufrecht stehen und lächeln kann, während die Gravitation ihn fast in Stücke reißt — und seine Loyalität obendrein —, hat meine aufrichtigste Bewunderung. In gewisser Weise erinnert er mich an…“
„Er ist nicht wie Eric!“
Er hob eine Braue. „Das wollte ich nicht sagen. Er erinnert mich an dich.“ Er hielt eine Hand hoch, um ihre protestierende Bemerkung abzublocken. „Aber jetzt, da du es erwähnst… er hat tatsächlich so etwas an sich, vielleicht seine Art, etwas an seinem Äußeren. Vielleicht liegt es daran, daß ich ihn gegen meinen Willen mag. Vielleicht macht dir das so sehr zu schaffen. Denn irgendwas macht dir zu schaffen.“
„Oh, Pappy…“ Sie hob eine Hand und preßte ihre Ringe gegen den Mund. „Es stimmt. Immer wenn ich ihn ansehe, wenn er irgend etwas macht… erinnert er mich… Aber er ist nicht Eric. Er ist keiner von uns, er ist einer von ihnen. Wie kann ich nur so fühlen. Wie kann ich aufhören… zu wollen, zu… wollen…“ Sie streckte einen Arm aus. Clewells starke Hand schloß sich um das Gelenk.
Er streichelte ihr glattes, schwebendes Haar. „Ich weiß es nicht. Ich kenne die Antwort nicht, Bertha.“ Er seufzte. „Ich weiß nicht, warum sie immer behaupten, betagte Häupter seien weise. Betagt sein ist nur ein anderer Ausdruck für alt sein.“
Shadow Jack bewegte sich ruhelos. Er war in dem zu einsamen Zimmer gefangen, in dem er schlief und in dem er vom Geist eines Fremden verfolgt wurde. Bücher über Ökonomie, ein sinnloser Gedichtband, ein handgestrickter Pullover, der in der Luft schwebte — die Gegenwart eines Toten war in allen Schubladen, in allen unordentlichen Ecken und Winkeln zu spüren. Rusty klammerte sich an seine Schulter, ihr bereitwilliges Akzeptieren linderte die Schmach seines Exils. Er streichelte sie gedankenlos und lauschte dem Ticken der Uhr, ein bedeutungsloses Geräusch, das das Hinwegticken der Sekunden markierte. Er fragte sich, ob sie von den Ringbewohnern bekommen würden, was sie wollten, fragte sich, wie er Bertha Torgussen jemals wieder gegenübertreten könnte… fragte sich, wie er den Rest seines Lebens meistern sollte.
Rustys winziges, nichtmenschliches Gesicht verschwand von seiner Schulter, das Tier wackelte mit den Ohren. „Bird Alyn?“ Er stieß sich zur Tür und sah Wadie Abdhiamal in einem anderen Zimmer verschwinden. Fast unhörbar vernahm er Abdhiamals Stimme: „Zum Teufel mit dieser Frau! Sie hat in das Antlitz Gottes gespien.“
Shadow Jack ging in den Korridor, vor Abdhiamals Tür verharrte er. „Was ist los? Hat sie in Ihr Antlitz gespien?“
Abdhiamal wandte sich um, und einen Augenblick lang drückte seine Miene Verlegenheit aus. Er glättete abwesend sein Arbeitshemd, bis es fast so glatt wie sein Gesichtsausdruck war. „Ja… so etwas war es wohl.“
„Was geschah da oben? Bekommen wir den Wasserstoff?“
„Wahrscheinlich… Warum waren Sie nicht im Kontrollraum?“
Er verzog das Gesicht. „Ich konnte nicht. Ich… ich habe den Kapitän als pervers bezeichnet.“
„Was hast du?“ Abdhiamal runzelte ungläubig die Stirn.
Shadow Jack umklammerte den Türrahmen, um sich weiterzuziehen, doch Verzweiflung ließ ihn innehalten. „Kann… ich mit Ihnen sprechen… von Mann zu Mann?“
Abdhiamal bat ihn mit einer Geste in sein Zimmer. Sein Gesicht war todernst. „Schon möglich. Worüber?“
Shadow Jack räusperte sich. Rusty stieß sich von seiner Schulter ab, erhob sich wie ein startendes Schiff in die Luft und schwamm auf Abdhiamal zu. „Wie kommt es, daß Sie nicht verheiratet sind?“
Abdhiamal lachte verwirrt. „Ich weiß es nicht.“ Er sah der Katze zu, die sich anschickte, sich mit einer Pfote auf seine Schulter herabzuziehen. „Vielleicht, weil ich bisher noch keine Frau getroffen habe, die es wagte, Gott ins Antlitz zu speien.“
Shadow Jack riß die Augen auf, und während er Abdhiamal ansah, fragte er sich, wer wohl von ihnen beiden überraschter war.
Abdhiamal lachte wieder achselzuckend. „Aber irgendwie bezweifle ich das.“
„Ich meine… Sie sagten kürzlich, nun würden Sie niemals mehr heiraten. Ich dachte, das hätte vielleicht… ein paar andere Gründe.“ Er umklammerte den Türrahmen.
„Hat es.“
Er verharrte, immer noch festgeklammert.
„Ich bin viel herumgereist. Das heißt, ich war hoher Strahlung ausgesetzt, wodurch die Gefahr genetischer Schäden besteht. Wir können Sperma konservieren, damit wenigstens die Männer reisen und trotzdem gesunde Kinder haben können. Aber nach dem verhängten Urteil bin ich jetzt, rechtlich gesehen, tot. Sie werden meinen Vorrat vernichten.“ Abdhiamal atmete tief ein. „Und ich bin sterilisiert.“
Shadow Jack sah ihn an, und langsam kamen ihm die Worte über die Lippen: „Ich wollte, ich wäre steril!“ Er schüttelte den Kopf. „Ich wollte nicht… so habe ich es nicht gemeint. Aber wir können niemals heiraten, Bird Alyn und ich, weil ich nicht steril bin und sie auch nicht. Wir sind strahlungsgeschädigt. Wir sollten keine Kinder haben, aber das würden wir…“
Abdhiamal kraulte Rusty unter dem Kinn. „Das ist eine einfache Operation. Können sie die auf Lansing nicht durchführen?“
„Können schon… aber sie wollen nicht.“ Ein Gefühl des Elends lag wie ein Zentnerstein auf ihm. „Als Materialist muß man für alle seine Aktionen selbst die Verantwortung tragen. Es wird von einem erwartet, daß man selbst die Konsequenzen für sein Tun trägt und sie nicht anderen aufbürdet. Wie meine Mutter… als meine Schwester geboren worden war und sie sagten, sie sei zu sehr deformiert… meine Mutter mußte sie aussetzen… Sie ließ es nicht einmal mehr zu, daß mein Vater sie sah.“ Er betrachtete seine Hände. „Aber um die medizinische Technologie ist es schlecht bestellt. Manchmal glaube ich einfach nur, sie wollen nichts von dem, was übriggeblieben ist, verschwenden.“
Abdhiamals Stimme hatte plötzlich wieder ihren sanften, professionellen Ton. „Nach welchen Kriterien wurden Sie für defekt erklärt? Sie machen doch einen gesunden Eindruck.“
Shadow Jacks Hände umklammerten Metall. „Vielleicht war ich selbst nicht defekt, aber meine Schwester war es. Und sie brauchten mehr Außenarbeiter, daher sagten sie mir, ich müßte an der Oberfläche arbeiten. Das tut man, wenn man offensichtliche Schäden aufweist, so wie Bird Alyn. Dort habe ich sie auch kennengelernt…“ Wo er erkannt hatte, was das Leben einst bedeutet haben mußte, inmitten der Schönheit von Gärten und nicht umgeben von kahlem Gestein. Und dort hatte er auch eingesehen, daß sein eigenes Leben nicht deshalb endete, weil er die schützende Hülle der Felsen hatte verlassen müssen, daß dies weder das Ende von Hoffnung und Zuversicht, noch von Glauben und Gefühlen war. Aber er hatte zu viele Megasekunden auf der Oberfläche der winzigen Welt zugebracht, zu viele Megasekunden auf einem verseuchten Schiff… Und es geschahen keine Wunder, um eine verkrüppelte Hand oder ein gebrochenes Herz zu heilen.