„Sie haben Ihre Kinder zurückgelassen…“ Er zwang sich selbst zum Schweigen, bevor er sie wieder verletzen konnte. Wir verändern uns, aber die Veränderungen kommen immer zu rasch… und zu spät. Und es dauerte nur noch hundert Kilosekunden, bis sie Lansing erreicht haben würden.
Sie betrachtete ihn verwirrt. „Ja, wir haben sie bei meinen Eltern auf der Baumfarm gelassen.“ Verstehend fügte sie dann noch hinzu: „Wenn man auf Morningside aufgewachsen ist, ist die halbe Welt die eigene Familie. Man hilft sich, erzählt sich Geschichten, arbeitet zusammen… es gibt immer einen, der sich über einen Besuch freut. Wir haben unsere Kinder nicht weggegeben, wenn es auch schmerzlich ist, daß sie ohne uns soviel älter werden. Aber wenigstens Clewell und ich werden noch sehen, was aus ihnen geworden ist…“ Sie senkte den Blick und legte die Papiere zurecht. In ihren Augen sah er mehr als nur den physischen Schmerz.
„Shadow Jack und Bird Alyn… riskieren Sie ihretwegen soviel, um einer sterbenden Welt noch ein paar Sekunden mehr zu verschaffen?“
Sie zögerte. „Ich weiß es nicht. Ich hatte nicht daran gedacht… aber ich glaube schon. Ich wünschte… ich wünschte, ich würde wissen, wie ich noch mehr tun kann.“
„Also wissen Sie Bescheid? Wie es auf Lansing aussieht?“
Sie nickte.
„Ich mache mir darüber keine nennenswerten Gedanken, muß ich zugeben. Ich habe mir buchstäblich jede Chance auf etwas Besseres weggeredet.“ Er lächelte. „Aber ich bereue es nicht. Es diente einem guten Zweck.“
Sie hob eine Tasse auf und stellte sie wieder hin. „Was werden Sie auf Lansing tun, Wadie?“
Er lächelte, als er seinen Namen hörte, doch das Lächeln erlosch, als er darüber nachdachte. „Dasitzen und auf das Ende der Welt warten, vermute ich. Das Ende aller Welten. Nicht mit einem spektakulären Knall, sondern mit einem unhörbaren Seufzen.“
„Das müssen Sie nicht, darüber sind Sie sich ja im klaren.“
Er fühlte ihre Berührung. Er schüttelte den Kopf. „Vielleicht nicht. Vielleicht ist das die Strafe dafür, daß ich immer vorgegeben habe, es gäbe ein Morgen.“
„Und das glauben Sie nicht?“
„Ich weiß nicht.“ Er zuckte die Achseln. „Ich weiß nicht mehr, was ich glaube.“ Er wußte nur, daß er sich in einem riesigen Mausoleum befand und Angst hatte, dem Tod ins Gesicht zu blicken. „Aber ich gehöre hierher, zum Himmel, wenn das einen Sinn ergibt. Es jagt mir höllische Angst ein, und trotzdem muß ich es bis zum Ende durchstehen. Trotzdem danke.“ Er sah ihr unzufriedenes Lächeln.
„Sie können Ihre Meinung immer noch ändern.“
„Schneller, als ich Himmel verändern könnte… Ist das nicht ironisch? Wir begannen hier mit allem und Morningside mit nichts… und nun sehen Sie, wer scheiterte.“
„Auch wir sind fast gescheitert — mehr als einmal.“ Bertha betrachtete die Wand, als könnte sie durch die Zeit selbst blicken. „Wie auch Uhuru und Höllenloch und Lebensraum. Aber wir bekamen Hilfe.“
„Von wem?“
„Gegenseitige Hilfe. Planeten wie Morningside sind so kärglich, daß jede kleine Unregelmäßigkeit einer Katastrophe gleichkommt… aber sie sind die zahlenmäßig am häufigsten unter den kolonisierbaren Welten. In unserem Raumsektor sind sie alle wie Morningside. Aber unsere Welten befinden sich innerhalb einer vernünftigen Reichweite. Wir gründeten einen Handelsring, und wenn es einem von uns schlechtgeht, dann greift der Rest helfend ein. So können wir überleben. Mehr tun wir nicht, wir überleben. Aber das genügt… und es muß für alle Ewigkeit genügen, jetzt, wo unsere Reise hierher ein Fehlschlag war.
Wir haben auch unser Maß an Ironie, wissen Sie… Morningside wurde nach einem größeren politischen Aufstand auf der Erde kolonisiert. Unser nächster Nachbar, Uhuru, wurde von unseren ehemaligen ‚Feinden’ besiedelt, nachdem ihr eigenes Imperium auf der Erde gestürzt war. Not schafft festere Bindungen als die Politik dies jemals kann.“
Er lachte unvermittelt. „Wie wir fünf ja am besten wissen sollten.“
Ihre Augen hielten ihn im Bann. Sie hatte einen Finger über die Lippen gelegt.
„Wenn Sie vor dem Krieg gekommen wären, Bertha, dann könnten vielleicht sogar wir fünf etwas ausrichten. Himmel hätte etwas über Gemeinsamkeit und Teilen lernen können. Jetzt ist es zu spät, es ist nichts mehr da, das man teilen könnte.“
Sie verlagerte wieder ihr Gewicht, wobei sie leise stöhnte. „Wa-die… Sie sagten einmal, das Wissen, das Himmels Technologie auf den Höchststand brachte, sei immer noch intakt. Wenn man die Schwerindustrie wieder aufbauen würde, könnte das ein neuer Antrieb für den Gürtel sein, und alles könnte wieder so sein wie vor dem Krieg. Sie sagten, schon die Ranger würde ausreichen, das zu bewerkstelligen… Was wäre… was wäre, wenn wir euch in unser Handelsnetz mit einspannen könnten? Es wäre möglich — die Entfernung zwischen uns und euch ist kaum größer als die Distanzen, die wir bereits zurücklegen. Wenn wir Himmel zu einem Neuanfang verhelfen könnten, dann könntet ihr uns dafür geben, was wir benötigen — was ein reicheres Leben für alle beteiligten Welten gewährleisten würde. Dann müßte so etwas nie wieder geschehen!“
Er hörte ihre Stimme, die plötzlich vor Eifer lebhaft klang, als wären Schmerz und Kummer von ihr abgefallen, um sich auf ihn zu konzentrieren. „Das hatte ich auch gedacht. Aber ich habe mich geirrt.“
„Geirrt?“
„Unser Niedergang ist bereits zu weit fortgeschritten. Wir können uns nicht mehr erholen, der Tod ist eine Krankheit, die uns alle angesteckt hat. Wir können niemals mehr zusammenarbeiten, nicht einmal, um uns selbst zu retten.“
„Aber wenn man begreifen würde, daß Hoffnung für alle besteht…“
„Und wie wollen Sie ihnen das begreiflich machen? Sie haben doch am eigenen Leib verspürt, wie sie zuhören.“ Er schlug mit der Hand auf die Bank. „Sie würden nicht zuhören!“
„Nein, das würden sie nicht…“ Bertha begann kümmerlich zu lächeln und schüttelte den Kopf. „Wadie Abdhiamal — wie konnte es soweit kommen? Sie sagen, sie werden nicht, ich sage, sie werden… Wie können wir uns gegenseitig besser verstehen, als wir uns selbst verstehen können?“
Er schüttelte den Kopf, ein Lächeln glättete seine Züge, und während er sie ansah, verflog sein sinnloser Zorn.
Ihre Hand glitt zögernd vom Tisch und berührte das Lederband an seinem Handgelenk. Er griff nach ihrer Hand, ihre Finger umklammerten einander, braun und bleich. Sie sah erst ihn ernst an, dann ihre Hände. Schließlich entzog sie ihm ihre Hand wieder und sagte leise, wie zu sich selbst: „Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie heute noch unglücklich und unzufrieden.“
Flagschiff Einheit (Im Raum Lansing)
+ 3,00 Megasekunden
Eine Plünderung. Während er, Raul Nakamore, das Phantomschiff von Außerhalb verfolgt hatte, hatte es buchstäblich einen Kreis um ihn geflogen und die Destille geplündert, die seine Flotte hatte beschützen sollen. Während er immer noch vergeblich hier bei Lansing festsaß und nicht mehr genug Treibstoff hatte, auch nur einem Witz nachzujagen. Raul trommelte zornig mit den Fingern auf der Lehne seines Sessels, da er seiner Frustration auf keine andere Weise Ausdruck verleihen konnte.
Doch die Meldungen, die er empfangen hatte, deuteten darauf hin, daß das Sternenschiff das System nicht direkt verlassen hatte, sondern seinem eigenen Kurs folgte und nochmals nach Lansing zurückkehrte. Raul betrachtete das Instrumentenpult. Siebenundzwanzig-tausend Kilosekunden waren verstrichen, bis zur Ankunft bei Lansing blieben somit noch dreiundzwanzig Kilosekunden. Wie in der Fabel vom Hasen und der Schildkröte — verlangsamt durch die Last des gestohlenen Wasserstoffs, konnte das Sternenschiff niemals vor ihm in Lansing sein, wenn Lansing tatsächlich sein Ziel war. Aber warum sollte es? Warum sollten diese Außenweltler für Lansing Pirat spielen, wo sie bereits in den Ringen schwere Verluste erlitten hatten? Rache? Aber sie hätten die Destille mit Leichtigkeit zerstören können: statt dessen stahlen sie nur tausend Tonnen Wasserstoff — zu wenig, um die Große Harmonie entscheidend zu schwächen, aber auch zuviel für ein schnelles Entkommen.