Und derjenige, der ihnen beim Diebstahl geholfen hatte, war Wadie Ahdhiamal… Wadie Abdhiamal vom Demarchy. Vom Demarchy zum Gesetzlosen erklärt, wie Djem gesagt hatte, von seinem Volk zum Verräter gestempelt, da er dem Sternenschiff das Entkommen ermöglicht hatte. Und wenn es eine Tatsache gab, deren er, Raul, ganz sicher war, dann war es die, daß Abdhiamal mit Sicherheit kein Verräter war. Aber warum hatte er dann die Zukunft seines Volkes verraten? Er war vielleicht nicht der Vernünftigste, aber verrückt war er auch nicht. Warum bedrohte er Schnee-der-Errettung, wo er doch besser als jeder andere Demarchos wissen mußte, daß das auch das Ende seines eigenen Volkes bedeuten konnte? Warum verriet er seine Freunde? Denn sie waren seine Freunde gewesen, und indem er sie verriet, hatte er sich selbst die einzige mögliche Zuflucht im Himmel-System vernichtet, die ihn aufgenommen hätte.
Vielleicht war er dazu gezwungen worden. Aber Djem hatte gesagt, Abdhiamal habe nicht wie ein Mann gehandelt, der unter Zwang steht… Raul wußte, Djem würde Abdhiamal nie verzeihen — wenn nicht aus anderen Gründen, so nur wegen des Verrats ihrer Freundschaft. War es das Schiff oder seine Besatzung, die einen Mann wie Abdhiamal dazu bringen konnte, alles aufzugeben? Vielleicht würde er es nie erfahren. Aber das Schiff folgte ihnen nach Lansing…
Raul streckte sich und sah Sandoval an. Sandovals hakennasiges Profil zeigte eine Maske kompromißloser Langeweile, während er ein Romanband las. Ein guter Offizier, dachte Raul. Wenn er diesen Einsatz seines Schiffes für nutz- und sinnlos hielt, ließ er es sich nicht anmerken. Raul behielt seine eigenen Zweifel und Spekulationen für sich. Dreiundzwanzig Kilosekunden nach Lansing. Und vielleicht würden sie doch nicht enttäuscht werden…
Der Anblick von Diskus, bis fast zur Unkenntlichkeit zusammengeschrumpft, begrüßte Raul, als er sich von der Luftschleuse abstieß und zur felsigen Oberfläche des Landefelds von Lansing hinabschwebte. Er erinnerte sich daran, einmal zum Himmel des Demarchy aufgeblickt zu haben, wo Diskus nur ein winziges, helles Pünktchen gewesen war, ein Stern unter vielen und auch so unerreichbar wie die Sterne. Er erinnerte sich an das Gefühl von Isolation und Einsamkeit, das ihn damals erfüllt hatte. Dieses Mal, zwar unsichtbar, aber immerhin doch in nächster Nähe, hatten sie ein Schiff im Orbit um Lansing, das für ihre Sicherheit garantierte. Er bewegte sich vorsichtig, während er auf die Handvoll Besatzungsmitglieder der gelandeten Schiffe wartete. Nach fast drei Megasekunden konnte er endlich wieder einmal sämtliche Muskeln unter normaler Gravitationseinwirkung entspannen. Jenseits des Feldes lagen drei weitere Schiffe. Er studierte sie mit flüchtiger Neugier und erkannte, daß selbst Lansing jene elektronuklearen Raketen hatte, über die die Große Harmonie nicht verfügte. Aber gleichzeitig erkannte er, diese drei Schiffe waren so tödlich, daß sie Große Harmonie ohne sie wahrscheinlich besser dran war. Unter ihm (der kaum merkliche Sog der Gravitation hatte ihm dieses Wort eingegeben) waren durch das transparente Zelt, das neun Zehntel der Oberfläche Lansings schützte, grüne und goldene Flecken zu sehen. Er dachte an treibenden Schnee, goldfarbene Gase, die in der Kälte kristallisiert waren.
Das war Lansing, einst das stolze Herz des stolzen Himmels Gürtel, die einzige derartige Welt. Das selbstgeschaffene Ökosystem hatte die Umweltbedingungen der Alten Erde wieder auferstehen lassen, und nur deshalb hatte die Bevölkerung den Krieg überleben können.
Weil es als Herz und Zentrum ein Schaustück gewesen war, mehr nicht. Er wußte, daß Lansing bei der letzten Annäherung an Diskus der Piraterie anheimgefallen war, und fragte sich, wie es jetzt wohl aussehen mochte. Seine Mannschaft war nervös und feindselig. Er hatte den Männern Anweisung gegeben, auch innerhalb des Asteroiden die Schutzanzüge anzubehalten, um sich vor möglichen Krankheitserregern zu schützen — und um sich vor allen Tätlichkeiten der Eingeborenen zu schützen, die bei einer direkten Konfrontation von Angesicht zu Angesicht geschehen konnten.
Sie setzten sich in Richtung auf die einzige Luftschleuse in Bewegung, die im Felsgestein über den Schiffen zu erkennen war. Raul betrachtete die einsame Funkantenne auf der Kuppe eines nahe gelegenen kahlen Hügels. Sie wurde vom kalten Licht der fernen Sonne spärlich beleuchtet und versank in der Nacht, während der Planetoid sich weiter drehte. Keine Lichter zur Warnung landender Schiffe blinkten an dem schlanken Mast. Sein Funker war außerstande gewesen, Funkverkehr von Lansing zu empfangen. Er fragte sich, ob ihr Kommunikationsnetz vollkommen zusammengebrochen war, ob sie überhaupt von der Landung seines Schiffes informiert waren… oder ob sie schon alle — eine unangenehme Vorahnung — tot waren.
Einer seiner Männer drehte das Rad, die Schleuse öffnete sich. Die Männer hinter ihm warteten ohne Anzeichen von Spannung, Erleichterung oder Triumph darüber, ihr Ziel erreicht zu haben. Er hörte lediglich unbehagliches Flüstern und Murmeln, das er über seinen Helmfunk empfing. Ihre Stille verblüffte ihn, bis er erkannte, daß auch er schwieg, als hätten Isolation und der Hauch des Todes, der Himmels Gürtel umgab wie dieses Zelt hier seine Welt, sie alle in ihren Bann geschlagen. Das Schleusentor schwang nach außen. Raul betrat sie mit einem flüchtigen Gedanken an das Tor zur Hölle, zur Unterwelt.
Die Schleuse schloß sich wieder und ersetzte Vakuum durch Luft. Raul fühlte, wie der Anzug seine Starre verlor, und sah sich flüchtig um, ob niemand ungehorsam seinen Helm öffnete. Nach fast drei Megasekunden in künstlich wiederaufbereiteter Luft wußte er selbst nur zu gut, wie stark dieser Drang werden konnte. Er überprüfte seine Waffe, die er in der Armbeuge hielt.
Das innere Schleusentor glitt beiseite. Er blickte hinein — und mitten in die Gesichter von zwölf Männern und Frauen, die sie ihrerseits ungläubig musterten. Sie hatten ihn nicht erwartet, erkannte er. Er trat in den Korridor vor und suchte die furchtsamen Gesichter nach dem eines möglichen Anführers ab, sah Schmutz und zerrissene, behelfsmäßig geflickte Kleidung. Er hörte die verblüfften Flüche der Männer hinter seinem Rücken und hob daraufhin seine eigene Stimme. „Nun gut, wer…“
Eine Frau von unbestimmbarem Alter löste sich von der Gruppe und kam auf ihn zu; sie trug etwas in Lumpen Gehülltes, Tränen rannen über ihre Wangen, die dunklen Augen musterten ihn eindringlich. Er hörte eine zitternde Stimme: „… ein Wunder, es ist ein Wunder…“ Bevor er reagieren konnte, hatte sie ihm das Bündel in die Hand gegeben und war in einem Tunnel verschwunden. Er betrachtete das Bündel und sah ein neugeborenes Kind. Das Baby gab keinen Laut von sich. Als er den Grund erkannte, wandte er sich ab. „Wessen Kind ist das?“ Seine Stimme bekam einen harten, zornigen und verneinenden Klang.
Einer der Männer kam auf ihn zu, sein Gesicht zeigte immer noch Furcht, eine Art Verzweiflung trieb ihn voran. „Es ist meines… unseres. Bitte… bitte, geben Sie es mir wieder.“ Etwas in seiner Stimme machte aus dem Kind ein Ding. Er streckte einen Arm aus, der Ärmel glitt zurück — er war bis zum Ellbogen aufgerissen. Schmutz war schwarz unter seinen Fingernägeln zu sehen, er schwärzte auch seine Handlinien.
Raul hielt ihm das Kind unsicher hin. Der Vater riß es ihm fast aus dem Arm. Er stieß sich unerwartet durch den Kreis der bewaffneten Männer zur Schleuse. Er warf das Baby hinein, schlug mit einer Hand auf die Kontrollplatte und begann, am Rad zu drehen.
Raul sah Sandoval vorwärts springen, aber der Mann versperrte mit seiner Gestalt den Zugang zur Schleuse, deren Tor sich langsam schloß. Sandovals Hand umklammerte sein Hemd und riß es fast in Fetzen, als er daran zog, doch der Mann stieß ihn mit einem Fuß beiseite. Gerade als Sandoval die Finger in den letzten Spalt schieben wollte, schloß sich die Tür endgültig. Das grüne Licht über dem Tor wurde rot. „Warum…“ Sandoval fuhr herum, während zwei seiner Männer den Mann in ihre Mitte nahmen.