„Sandoval!“ Raul hob eine Hand. „Das genügt! Das genügt… Es war ein… Gnadenakt. Laßt ihn los.“
„Sir…“ Hinter dem Glas des Helmes konnte er Sandovals hilflose Wut sehen.
Raul schüttelte den Kopf und verdrängte die Erinnerung an seine eigenen drei Töchter und zwei Söhne, die mittlerweile alle erwachsen und gesund waren. Er sah, wie der Vater langsam gegen die Wand sackte, als die Männer ihn freigaben. Der Mann zupfte klagend an seinem zerrissenen Hemd, als sei der Riß eine tödliche Wunde.
Raul sah wieder in den Tunnel, in dem der Rest der Zuschauer verschwunden war. Unter dem zornigen Gemurmel der Mannschaft ging er auf ihren Gefangenen zu, durch einen Ring der Gesichter. Der Mann duckte sich und hob abwehrend eine Hand. „Ich mußte es tun… ich mußte es tun. Jemand mußte es tun. Sie wußte es, aber sie wollte es nicht zugeben. Jeder sagte das. Es wäre ohnehin gestorben, oder nicht? Oder nicht? Sie sahen es, es war krank…“ Er senkte die Arme und umklammerte Rauls Ärmel. „Sie haben es gesehen?“
Raul widerstand dem Drang, die Hände wegzuschlagen. Er holte tief Atem. „Ja. Ich habe es gesehen. Es hätte nicht überlebt.“
Der Mann klammerte sich wimmernd an seinen Ärmel. „Danke… danke…“
Raul schüttelte ihn unsanft, sowohl von Mitleid wie auch von Abscheu erfüllt. „Wer sind Sie?“
Der Mann sah ihn verständnislos und dumm an.
„Ihr Name“, sagte Raul. „Identifizieren Sie sich.“
„Wind… Wind Kitavu.“ Der Mann richtete sich auf, und als die Vernunft in seine Augen zurückkehrte, ließ er Rauls Ärmel los. Alte Augen im Kopf eines jungen Mannes. „Wer… was machen Sie hier?“
„Ich stelle die Fragen. Zuerst — gibt es hier einen Führer, und wenn ja, können Sie uns zu ihm bringen?“
Wind Kitavu nickte und sah mißtrauisch in die Mündungen von einem halben Dutzend Gewehren. „Der Premierminister, das Abgeordnetenhaus. Ich kenne die Säle. Ich werde Sie…“ Seine Finger suchten wieder nach dem Riß in seinem Hemd und hielten die Hälften nervös zusammen. „Sie sind nicht der…“ Raul sah die Frage in ihm aufsteigen, doch er schluckte sie wieder herunter. „Soll ich Sie hinbringen?“
Raul winkte seine Männer beiseite und ließ Wind Kitavu passieren. Er folgte ihm, und hinter ihm folgte die Mannschaft. Wie er bemerkte, war ein Bein des Mannes kürzer als das andere und verkümmert. Die Tore zur Hölle, das Zentrum Himmels.
Sie wurden nicht wie erwartet zur Oberfläche geführt. Wind Kitavu blieb in den unterirdischen Korridoren, wo Männer und Frauen sie stumpf beobachteten und alle Anzeichen von Furcht und Verwunderung, in der Hauptsache aber Verwirrung zeigten. Keine Bedrohung. Seine Benommenheit wich einem Gefühl tiefer Depression. Eine Frau gesellte sich aus einer Nische zu Wind Kitavu. „… Sternenschiff…?“ Wind Kitavu schüttelte den Kopf, worauf sie sich wieder entfernte. Raul sah Verzweiflung in ihrem Blick, als sie an ihm vorbeikam. Sein Gefühl des Elends wurde immer größer.
Auf seinen Befehl hin zeigte ihnen der Mann den Weg zum Kommunikationszentrum, und er schickte Sandoval mit zwei Männern zu einer Überprüfung dorthin. Mit den anderen ging er weiter, wobei er sich ständig fragte, was sie im Abgeordnetenhaus erwarten mochte.
Was er auch erwartet hatte, es konnte ihn nicht auf das vorbereiten, was er dann zu sehen bekam. Jemand hatte die Nachricht von ihrer Ankunft überbracht: Sieben Gestalten standen wartend in dem Zimmer mit den groben Wänden, das er instinktiv als Lagerhalle und nicht als Versammlungszentrum erkannte. Die fünf Männer und zwei Frauen wirkten in ihrer Staatstracht wie glitzernde Juwelen auf einem kahlen Felsuntergrund. Ein Mann nestelte immer noch an den Falten seiner Ärmel herum, wie Raul bemerkte. Der Mann, der ihnen am nächsten stand, trat nach vorn, sein Gang war würdevoll, sein Gesicht ein Ausdruck erhabener Gewichtigkeit. Raul betrachtete die kostbaren Brokatgewänder: Die Fasern absorbierten das Licht, brachen es und warfen es schillernd wieder zurück. Trotzdem konnte er dazwischen immer wieder Flickstellen sehen. Das Gewebe war alt und vom Zahn der Zeit angenagt. Der Mann trug eine turbanähnliche Kopfbedeckung aus demselben Material; wo sein Gesicht und seine Hände sauber waren, hoben sie sich dunkel gegen den hellen Stoff ab.
Raul wartete stumm, bis der Abgeordnete ihn erreicht hatte. Die anderen Ratsmitglieder versammelten sich hinter ihm; sie alle waren ähnlich gekleidet. Ihr Blick ruhte mehr auf Rauls Waffe als auf seinem Gesicht. Schließlich hob der Mann den Kopf und suchte hinter dem Helmvisier nach Rauls Blick. „Ich bin Silver Tyr“ — die Stimme überraschte ihn mit ihrer kalten Arroganz — „Präsident des Lansingschen Abgeordnetenhauses, Premierminister von Himmels Gürtel…“ Der Mann verstummte, als Gelächter in Rauls Helm rasselte, es dauerte lange Sekunden, bis er erkannte, daß es nicht sein eigenes, unterdrücktes Lachen war, sondern das eines der anderen Besatzungsmitglieder. Er hob eine Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen, und einen Augenblick lang hörte er noch den blechernen Nachhall in dem Zimmer.
„Und Sie sind…?“ Der Premierminister sprach die Worte mit gekränkter Eitelkeit aus — er verlangte nicht für den Schattenregenten Respekt, der in seinen Lumpen vor ihnen stand, sondern für den verlorenen Traum, in dem sie alle vor ihrem Sündenfall gelebt hatten.
„Raul Nakamore. Hand der Harmonie.“ Und fast unbewußt streckte er eine Hand aus, durch den Handschuh vor Schmutz geschützt, aber bereit zur Freundschaft. „Wir wollen Ihrem Volk nichts Böses tun. Wir wollen Ihre Zusammenarbeit, solange wir hier sind.“
Der Premierminister streckte ebenfalls die Hand aus, mit der zögernden Geste eines Mannes, der erwartet, sie beiseite geschlagen zu bekommen. „Und weswegen sind Sie hier, Sir?“
Raul schüttelte die Hand, ließ sie aber wieder los, bevor er antwortete. „Wir jagen Piraten, Euer Exzellenz.“ Diesen ungebräuchlichen Titel hatte er noch von halb vergessenen Geschichtslektionen behalten. Auf mehr als einem Gesicht erkannte er plötzlich schuldbewußte Mienen.
Als er seinen Blick bemerkte, sagte der Premierminister: „Aber das war vor fast einer vollen Gigasekunde, Hand Nakamore — zudem war es ein Akt der Notwendigkeit, wie Sie sicher wissen. Gewiß sind Sie doch nach der langen Zeit nicht den ganzen Weg gekommen, nur um zu bestrafen…“
„Ich spreche nicht von Ihrem letzten Angriff auf die Ringe, Euer Exzellenz — ich glaube, das wissen Sie. Ich spreche von dem Sternenschiff von außerhalb des Himmel-Systems, das eines unserer Schiffe vernichtet und unsere Hauptdestille ausgeplündert hat — und das auf seinem Flug aus unserem System hinaus bei Lansing vorbeikommen wird…“
„Sir…“ Raul hörte die Stimme Sandovals und wandte sich um, als noch weitere Männer den Saal betraten.
Sandoval und seine beiden Männer kamen zu ihm. Sie eskortierten eine zornige, magere Frau, braune Haut, braune Augen, braunes Haar, das an den Wurzeln bereits weiß wurde. Raul starrte sie an, so wie sie ihn anstarrte. Als ihr Blick über die herausgeputzten Gestalten der Ratsmitglieder glitt, flammte lautloser Zorn wie ein Feuer hinter ihren Augen auf. Ihr Blick wandte sich wieder ihm zu, und der Zorn kühlte etwas ab. Er dachte an einen Brand, der zwar einstweilen unter Kontrolle war, aber immer noch schwelte.
„Sir, diese Frau fanden wir im Funkraum. Sie behauptet, ihr Kom sei nicht mehr in Ordnung.“
Nickend wandte er sich wieder dem Premierminister zu, als dieser sagte: „Wir wissen nichts von einem Sternenschiff. Sie haben alle Schiffe gesehen, die wir haben. Mit ihnen können wir nicht einmal mehr Diskus erreichen…“