Выбрать главу

Raul kommandierte zwei weitere Männer zum Bewachen der Luftschleuse ab, einen behielt er bei sich. Der Premierminister und seine Abgeordneten warteten, sich bewußt — wie auch er sich bewußt war —, daß es ihnen an der nötigen Konsequenz und Kontrolle fehlte.

Der Premierminister wandte sich an Wind Kitavu, seine Robe öffnete sich wie eine Blüte. „Du. Was machst du hier unten?“

„Sie wissen, was ich getan habe!“ Wind Kitavu sprang weg von der Wand. „Das Kind. Ihr alle wißt es. Tut nicht so, als ob es anders wäre!“

Der Premierminister wich zurück, eine würdelose Bewegung. „Dann erwarte nichts weiter von uns! Du wußtest, was geschehen würde. Akzeptiere deine eigenen Fehler… geh wieder an deine Arbeit.“ Er streckte einen Arm aus.

Raul sah Schmutz, der verkrustet den ganzen Unterarm bedeckte, als der Ärmel zurückglitt. Er hörte einen seiner Männer, der es ebenfalls gesehen hatte, laut lachen, doch dieses Mal unternahm er keinen Versuch, ihn zum Schweigen zu bringen. Er wandte sich ab. „Wind Kitavu.“

Wind Kitavu verharrte auf halbem Weg zur Tür.

„Gehst du zur Oberfläche?“

Ein ausdrucksloses Nicken. „Muß es meiner Frau erzählen. Von dem Baby.“

„Dann werden wir dir folgen. Ich möchte diese verdammten Gärten sehen.“

„Verdammten Gärten…“ wiederholte eine andere Stimme. Wind Kitavu ging zum Ausgang. Raul wandte sich nicht noch einmal dem Premierminister von ganz Himmels Gürtel zu.

Raul folgte seinem wortkargen Führer durch viele Tunnels, dieses Mal in eine Aufwärtsrichtung. Schließlich wurde ein kleines Lichtfleckchen vor ihm immer heller und größer — eine Helligkeit, die so intensiv war, daß sie nur von der Sonne stammen konnte. Dieses Mal begegnete er einem Tag, der für die menschliche Rasse seit ihrem Bestehen natürlich war, für ihn jedoch vollkommen neu und unerwartet. Frei, ungehindert, konnte er ins Tageslicht hinaustreten.

Und dann blieb er stehen und bestaunte die grüne Vegetation, die ihn umgab, als er den Hügel hinabblickte. Plötzlich verfolgte ihn eine lebende Erinnerung an die hydroponischen Treibhäuser der Harmonie, an Hitze und Feuchtigkeit, die den Arbeitern den Schweiß aus allen Poren trieb. Sein Besatzungsmitglied trat wieder in den Tunnel zurück, und er beorderte ihn scharf an seine Seite. In periodischen Abständen wurde der Dienst in den hydroponischen Anlagen von allen Bürgern verlangt. Auch er hatte diesen Dienst in seiner Jugendzeit abgeleistet, aber heute, als Hand der Harmonie, wurde er ihm selbstverständlich nicht mehr auferlegt. Vielleicht hat ein hoher Rang doch seine Privilegien.

Doch die Handvoll von zerlumpten Arbeitern sah nicht unbehaglicher aus als die bei der Schleuse. Durch seinen Anzug geschützt, würde er niemals die volle Realität der Gärten erfahren können, nicht erfahren, wie das Leben auf der Alten Erde gewesen war. Zwei verschiedene Zukünfte begegneten ihm hier, im Gleichgewicht von Leben und Tod — und er würde, wie man es auch betrachtete, diese Gelegenheit nie mehr haben…

Er blickte zurück zu dem Meer abgestumpfter, schmutziger Gesichter, die genetische Mängel wie ein Brandzeichen kenntlich machten. Hoch über ihnen, über allem, beschattet und halb verborgen von den Bäumen, war eine transparente Hülle, die ebenfalls an manchen Stellen behelfsmäßig geflickt war. Einst mußte dort noch mehr gewesen sein — etwa ein Kraftfeld, um die Arbeiter vor der Sonnenstrahlung zu schützen… eine Schutzvorrichtung, die schon lange verloren war. In der Großen Harmonie wurde ein andauernder Dienst in den hydroponischen Anlagen als Strafe verhängt. Auch hier stellte er eine Strafe dar, wenn auch auf etwas andere Weise, eine Strafe für das Verbrechen, zum Opfer geworden zu sein… Er nahm seinen Helm nicht ab, da die Gefahr der Verseuchung ihm erneut bewußt geworden war, nicht die Verseuchung im Sinne einer Krankheit, sondern die weit gefährlichere Verseuchung des Verstandes. Schließlich war dies hier nicht der Ort, an dem er solche Gefühle haben wollte.

„Was ist jetzt?“ Einer von ihnen zerrte an Wind Kitavus Ärmel und riß ihm das zerlumpte Hemd fast vom Leib. „Tragen sie Anzüge, um herauszukommen und mit uns zu sprechen?“

Wind Kitavu befreite sich und zog sein Hemd wieder über die Schulter. „Nein…“ Mit gedämpfter Stimme sprach er weiter, immer wieder in ihre Richtung gestikulierend. Raul konnte die Worte nicht mehr verstehen. Er bewunderte die sanften Bewegungen der Bäume, sah einen nur zu vertrauten Ausdruck nach und nach auf allen Gesichtern erscheinen, eine so tief wurzelnde Verzweiflung, daß sie sich nicht einmal mehr in Zorn verwandeln konnte.

Wind Kitavu fragte seinerseits etwas, und der Arbeiter, mit dem er gesprochen hatte, deutete vage in die Gegenrichtung. Ohne um Erlaubnis zu bitten, ohne sich auch nur noch ein einziges Mal umzudrehen, stapfte Wind Kitavu zwischen den Büschen davon, pastellfarbene Blüten fielen hinter ihm von den Zweigen. Das Baby. Raul unternahm keinen Versuch, ihn aufzuhalten. Er erinnerte sich daran, was er tun mußte, und wollte keinesfalls zum Zeugen davon werden. Die anderen Arbeiter zogen sich ebenfalls wieder zurück, einer nach dem anderen, und im Weggehen warfen sie ihm noch immer müde Blicke zu, während ihre bloßen Füße sich über die niedergetrampelte Vegetation hinweg entfernten.

Raul warf einen Blick in den verlassenen Tunnel hinter ihm. Zum ersten Mal bemerkte er, daß die Lampen über seinem Kopf ohne Flamme brannten. Elektrizität… irgendwo hatten diese Menschen immer noch einen funktionierenden Generator, vielleicht eine Atombatterie aus der Zeit vor dem Krieg — oder durch einen späteren Handel mit dem Demarchy erworben. Wieder dachte er über die Tatsache nach, daß die Große Harmonie wegen des Demarchy nichts dergleichen hatte. Wären nicht die riesigen Schnee Vorräte, dann wäre die Große Harmonie in einer noch schlechteren Position als Lansing — und die einzige noch schlechtere Position war der Tod.

Beim Stichwort Demarchy fielen ihm auch wieder Wadie Abdhiamal und das Rätsel ein, das hinter ihrem bevorstehenden Treffen stand. Er hatte Abdhiamal als Unterhändler auf Schnee-der-Errettung kennengelernt: unerfahren und bezüglich seiner eigenen Position unsicher, und doch hatte er beide Seiten zu einer fruchtbaren Zusammenarbeit bringen können — mit einer Fairneß, die die Barrieren zwischen den Kulturen überwunden hatte wie ein glühender Dolch, der durch einen Eisblock gestoßen wird. Als Schiffskapitän hatte er Abdhiamal zu den Treffen in der Zentralen Harmonie gebracht, wie auch zu fast allen anderen Felsen der Ringe. Er war Zeuge geworden, wie man den Mann ignoriert, verlacht, beschuldigt, ihm gedroht hatte, und doch hatte er nie die Geduld verloren… Und er selbst war zunächst überrascht, argwöhnisch, und dann erfreut gewesen, als Abdhiamal ihn nach der Regierungspolitik der Harmonie gefragt hatte. Erfreut, weil er sah, wie Abdhiamal ihm zuhörte und aus dem gewonnen Wissen lernte und es schließlich auch zum Nutzen aller einsetzte.

Die einzige Schwäche, die er an Wadie Abdhiamal hatte ausmachen können, war sein Unvermögen, mit einem fertig zu werden — dem unausweichlichen Ende von Himmels Gürtel. Er hatte herausgefunden, daß Abdhiamal der Meinung war, es werde immer noch eine Lösung geben, während er, Raul, wie die Bewohner von Lansing, seit langem gewußt hatte, daß im Endeffekt nur der Tod blieb. Doch langsam begann er zu argwöhnen, daß Abdhiamals unauslöschlicher Optimismus auch nur die eine Überzeugung kaschierte, so unauslöschlich wie seine eigene, nach der Himmel zum Sterben verurteilt war… aber mehr noch als das kaschierte es eine tiefe, pathologische Furcht: Abdhiamal war kein Mann, der akzeptieren konnte, daß sein ganzes Tun im Endeffekt vergeblich war. Er konnte nicht auf einer Straße gehen, deren Ende schon in Sicht war, niedergeschmettert von der Bürde seines eigenen Wissens würde er stolpern und fallen.

Ein Teil von Abdhiamals Verstand hatte sich vor der Wahrheit verschlossen, sie unter einer Lüge begraben, die ihn mit seiner Arbeit fortfahren ließ. Raul hatte Abdhiamal um das Demarchy beneidet, wo äußerlicher Reichtum ihm erlaubt hatte, nur noch fester an seine Illusion zu glauben. Er hatte sich auch gefragt, ob jemals etwas ihn dazu bewegen konnte, sich die Wahrheit einzugestehen…