Alles in Ordnung? Bertha warf Clewell einen verstohlenen Blick zu und sah, wie er die Augen aufriß. Eine Megasekunde — eine Million Sekunden —, fast zwei Wochen. Wer auch immer ihr gegenüberstand, welcher Wahnsinn auch immer für ihr Handeln verantwortlich war, das Leben dieser Leute mußte kurz und reich an Krankheiten sein, wenn sie es in einem solchen Schiff verbrachten.
Das blinde Gesicht fuhr fort. „Wir verfolgten euch, weil wir dachten, dieses Schiff wäre eine Beute, und weil wir es haben wollten. Wie ich sehe, ist das nicht so.“ Eine behandschuhte Hand hob sich an seiner Seite, bedrohlich, sie hielt etwas Glänzendes. „Aber wir müssen es haben. Daher werden wir es uns eben nehmen, egal wie. Geht weg von den Kontrollen.“ Die Hand winkte.
„Ihr werdet es bereuen. Ihr zwei könnt wahrscheinlich überhaupt nicht mit dem Schiff umgehen.“ Bertha ließ den Bolzen vorsichtig los, die Füße Zentimeter über dem Boden, die Augen auf die Konsole gerichtet. Wenn sie einen der Knöpfe berührte, stünde dieser Raum unter einer plötzlichen Gravitationsbelastung von einem g; einer der Fremden würde auf seinen Kopf fallen, der andere auf den Rücken… Und ihr Genick brechen? Sie zögerte. „Wenn ihr glaubt…“
Ein Ball gesträubten Fells kam aus einer Plastikluke in der Wand geschossen; Rusty mauzte erfreut und umkreiste die Knie der beiden Fremden. Bertha hörte, wie einer von ihnen schluckte. Er wich zurück, wobei er seinen Gefährten anstieß. „Sieh doch!“ Auch Rusty wich seitwärts aus, das Spiel begann ihr zu gefallen. „Was ist das?“ Ihre Stimmen klangen schrill. „Shadow Jack, nimm das weg von mir!“
Bertha zog die Computerfernbedienung aus ihrem Gürtel und warf sie. Sie traf den Arm des Fremden; seine Waffe wurde ihm aus der Hand geschleudert und flog in den Raum. Clewell bewegte sich hinter ihr her, um sie wieder einzufangen; die Eindringlinge warteten eng an die Wand gedrückt.
„Rusty. Komm her, Rusty!“ Bertha streckte eine Hand aus, und spitze Ohren richteten sich auf. Langsam durchquerte Rusty den Raum, strich um ihre Hüfte und schnurrte glücklich und zufrieden. Bertha kraulte sie unter dem Kinn, strich über den gekrümmten Rücken und schüttelte den Kopf. „Rusty, du hältst uns alle zum Narren.“
„Ha, verdammt will ich sein!“ Clewell begann, die Waffe neugierig zu betrachten; seltsame Formen funkelten an ihrer Seite. „Das ist ein Büchsenöffner! Flaschenöffner, Gabel, ich weiß nicht, was für einer das hier ist…“ Er zog sich in einen Stuhl. „Ich habe schon von allerlei Fetischisten gehört, aber solche habe ich noch nie gesehen.“
Bertha hielt sich an einem Sitz fest. Sie lächelte nicht. „Ihr zwei! Legt eure Anzüge ab.“ Gehorsam entkleideten sie sich; wie Falter schälten sie sich aus den Kokons ihrer Raumanzüge, ein Mann und eine Frau… ein Junge und ein Mädchen, unglaublich hoch aufgeschossen und dünn, keiner von beiden älter als siebzehn, barfuß in abgetragenen, schmutzigen Overalls. Als ihr Geruch sie erreichte, tat sie so, als bemerkte sie nichts. „Ihr habt gerade einen Akt der Piraterie begangen. Und nun könnt ihr mir klarmachen, warum ich euch dafür nicht ohne eure Anzüge aus der Luftschleuse stoßen sollte.“ Sie fragte sich, ob ihre Drohung auch wirklich so furchterregend klang, wie sie es gern hätte.
Der Junge starrte sie an, von einem würgenden Hustenanfall geschüttelt. Das Mädchen bewegte sich von der Wand weg. „Es ging um Leben und Tod.“ Ihre Stimme erstarb krächzend in der trockenen Kehle.
„Wir boten euch Hilfe an. Das war wohl nicht ausreichend?“
„Nicht euer Leben.“ Sie schüttelte den Kopf. „Wir brauchen das Schiff für… für…“ Sie brach ab, ihre Augen wanderten suchend im Raum umher.
„Bird Alyn, sie wissen genau, aus welchem Grund wir das Schiff brauchen.“ Bertha sah, wie ein unauslöschlicher, unpersönlicher Haß die Züge des Jungen verzerrte, als er sich umwandte. „Ihr wißt, was wir sind. Wir sind nur Schrottsammler, wir haben euch nichts getan. Laßt uns gehen.“
Bertha lachte erneut ungläubig. „Ihr habt ,nur’ versucht, das Kommando über mein Schiff zu übernehmen. Ich habe ,nur’ gefragt, warum ich euch dafür nicht in den Weltraum stoßen sollte. Und ihr erwartet von mir, daß ich euch gehen lasse? Ist denn jeder im Himmel-System verrückt?“ Ihre Stimme entglitt fast ihrer Kontrolle.
„Spielt auch keine Rolle.“ Er ließ den Haltegriff los und sank in sich zusammen. „Wir werden so oder so sterben. Jeder wird sterben. Nur ihr, ihr habt es gut, ihr Demarchos. Es ist einerlei für euch, ob ihr uns gehen laßt oder uns tötet.“
Bertha fand ihre schwebende Pfeife und suchte in ihren Taschen nach Streichhölzern. „Wir sind keine ,Demarchos’ was auch immer das sein mag. Wir kommen aus einem anderen System, um Kontakt mit Himmels Gürtel aufzunehmen; und seit wir hier sind, wurden wir bereits zweimal angegriffen, ohne jegliche Provokation unsererseits, einmal nahe Diskus und dann von euch. Nun, vielleicht glaubt ihr, ihr hattet eine Art ,Recht’, so zu handeln, und vielleicht könnt ihr mich sogar davon überzeugen. Aber vielleicht nehme ich euch auch mit nach Lansing, damit man euch wegen Piraterie anklagt.“ Sie sah Überraschung auf ihren Gesichtern. „Aber vorher werdet ihr mir noch einige Fragen beantworten… Zuerst einmaclass="underline" Wer seid ihr und woher kommt ihr?“
„Ich bin Shadow Jack“, sagte der Junge, „und das ist Bird Alyn. Wir kommen von Lansing.“ Er wartete.
„Aber dahin wollen wir…“ begann Clewell.
„Warum?“ fragte das Mädchen blinzelnd.
„Weil es das Regierungszentrum von Himmels Gürtel ist.“ Bertha sah sie durchdringend an. „Für euer Hauptzentrum scheinen harte Zeiten angebrochen zu sein.“
„Ihr kommt wirklich von außerhalb, was?“ Shadow Jack überkreuzte seine Beine wie ein Buddha und schaffte es irgendwie, dabei nicht hintenüber zu kippen. „Seit über zweieinhalb Gigaseks gibt es keinen Himmels Gürtel mehr.“
„Was?“
Stumm starrte er sie an. Clewell gestikulierte drohend mit der Katze.
„Es hat einen Krieg gegeben, den Bürgerkrieg. Alles flog auseinander, die gesamte Industrie. Niemand kann heute mehr etwas am Funktionieren halten, ausgenommen das Demarchy und die Ringe. Sie sind die einzigen, die weit genug draußen sind, um Schnee auf ihren Felsen zu haben. Lansing ist das Zentrum von nichts; fast alle im Hauptgürtel sind tot.“
„Ich verstehe nicht“, sagte Bertha, die nicht verstehen wollte. O Gott, laß es nicht zu, daß der einzige Grund für unser Herkommen hinfällig geworden ist… „Wie wir hörten, hatte Himmels Gürtel eine perfekte Umgebung, eine höher entwickelte Technologie als jede andere Erdkolonie, höher entwickelt, als die Alte Erde selbst.“
„Aber sie konnten sie nicht aufrechterhalten.“ Shadow Jack schüttelte den Kopf.
Plötzlich sah Bertha den fatalen Fehler, den die ursprünglichen Kolonisten, selbst Gürtelbewohner, niemals beachtet zu haben schienen. Ohne eine Welt, die eine Atmosphäre, Luft und Wasser hatte — die Grundlagen des Lebens —, mußten diese Dinge hergestellt oder erzeugt werden; andernfalls konnte man nicht existieren. Und ohne eine Technologie, die in der Lage war, diese Stoffe zu erzeugen oder abzubauen, in einem System ohne einen erdähnlichen Planeten, auf den man zurückgreifen konnte, mußte jedes Dunkle Zeitalter die unausweichliche Auslöschung bedeuten.
Als wäre er ihren Gedankengängen gefolgt, sagte Shadow Jack: „Im Endeffekt werden wir alle tot sein, selbst das Demarchy.“ Er sah weg und zwang sich zum Weitersprechen. „Aber unser Felsen hat kein Wasser mehr. Jedermann dort wird sterben, wenn wir noch einmal Himmel ganz umrunden müssen, ohne etwas zu finden. Und wir haben kein Schiff mehr, das uns zu den Ringen bringen könnte, zu Diskus, wo wir Wasserstoff holen könnten, um mehr herzustellen. Wir müssen genug Altmaterial finden, um weitermachen zu können. Erst in einer Gigasek werden wir Diskus wieder nahe genug sein, daß wir eine solche Reise machen können.“