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So eilten wir denn zum größten Hause GOTTES von Paris. Doch auch SEIN Haus war nun zur Gruft geworden. Das mächtige Portal an der Westfassade stand offen, sodass Lea und ich ohne Schwierigkeiten hineingelangen konnten. Doch dann stockte uns der Atem. Vor den Altären waren die Kerzen heruntergebrannt. Einzig das Sonnenlicht, verschleiert von den heraufziehenden Gewitterwolken, brachte die gewaltigen Fenster zum Leuchten und füllte das Kirchenschiff mit Licht. Doch während manche Stellen deshalb in blauem und rotem Glanz erstrahlten, lagen andere schon in fast undurchdringlicher Düsternis. Schatten huschten durch den Raum und verschwanden wieder im Gewölbe.
Einen Moment lang glaubte ich, es seien die Seelen der Toten. Ich bekreuzigte mich. Doch dann erkannte ich, dass es Fledermäuse waren, die sich an den Bögen und Kapitellen festgeklammert hatten. Lea und ich hatten sie aufgescheucht, als wir eingetreten waren. Wir waren allein — dachten wir zuerst. Doch kaum waren wir einige Schritte tiefer eingedrungen, da sahen wir, dass uns auch hier viele Tote Gesellschaft leisteten. Wir gewahrten die Körper von Dahingesunkenen zwischen Kirchenbänken und vor Altären. Vor der Pforte zur Sakristei lag ein Domherr, drei Priester und einen Mönch erblickten wir im Chor. Der Mönch war Dominikaner, ich kannte ihn vom Kloster.
Schaudernd ging ich weiter, langsam durchmaßen wir die riesige, stille, düstere Kathedrale.
»Haltet inne, Bruder Ranulf!«, flüsterte Lea mir zu und packte mich am Arm.
Wir lauschten. Tatsächlich: Irgendwo im Zwielicht bewegte sich jemand.
Ich glaubte auch, leise Schritte zu hören. Ich hob den Schürhaken und duckte mich. Der Unbekannte kam näher. Die Schritte schienen mir seltsam zu klingen, ganz leise und gar nicht menschlich. Stumm betete ich zum HERRN, dass er uns behüten möge. Ich sah einen Schatten am Rande einer Seitenkapelle.
»Halt!«, schrie ich da, sprang auf und hob den eisernen Haken. Ein Fauchen antwortete mir, eine rasche Bewegung, ein Schatten - dann war nichts mehr zu sehen.
Es war nur eine große schwarze Katze gewesen, ein Tier des Satans. Mein Herz schlug mir im Halse, Schweiß klebte auf meiner Haut. »Wir müssen weitersuchen!«, keuchte ich.
Doch so genau Lea und ich auch jede Kapelle und jeden Altar, jede Pforte und jeden Winkel erkundeten: Wir fanden nichts, das den Verschwörern als Versteck hätte dienen können. Nach wohl einer Stunde - es dunkelte schon und die Gewitterwand, die sich quälend langsam der Stadt näherte, stand endlich drohend über uns am Himmel - gaben wir die Suche im Innern auf.
Wir gingen nun draußen um die Kathedrale und wagten uns ins steinerne Dickicht der Strebepfeiler und Filialen, welches die Chorkapellen umhüllte. Es waren dies die Verstecke der Schönfrauen und ich musste unweigerlich an Jacquette denken.
Allerdings war hier kein sündiges Weib mehr, kein Bettler, überhaupt kein lebendes Wesen war mehr zu sehen. Nur Tote auch hier, doch war mein Blick schon so abgestumpft, dass ich nicht einmal mehr genau hinsah.
Schließlich standen wir wieder vor dem Portal unter der prachtvollen, steinernen Rosette, und sahen uns ratlos und verzweifelt an. »Wo mögen sich die Verschwörer verstecken?«, fragte ich. Da gab GOTT Lea ein Zeichen.
Denn sie blickte nach oben, da sie fürchtete, dass es gleich aus den düsteren Wolken regnen würde.
»Seht, Bruder Ranulf!«, rief sie da und deutete in den Himmel. Und dann bemerkte auch ich das Zeichen SEINES Zorns: Am finsteren Himmel kreisten wohl einhundert Raben. In großen Zirkeln flogen sie um die Kathedrale, als wären sie ruhelose Seelen, die noch an die Kirche gekettet waren. Wir sahen ihnen schreckensstarr zu, dann erkannten wir, dass sie um den südlichen Turm kreisten. Immer wieder stieß einer der schwarzen Vögel dort durch die steinernen Bögen ins Innere. Andere kamen heraus und flatterten davon, mit Fetzen im Schnabel. Ich konnte nicht sehen, was die Raben dort raubten — doch ich konnte es mir denken. »Dort oben liegen Tote«, flüsterte Lea. »Hinauf in den Turm!«, rief ich.
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Wir eilten wieder hinein in die Kathedrale, wandten uns dort nach rechts und fanden eine Pforte. Als wir sie öffneten, entdeckten wir eine schmale, steinerne Wendeltreppe, die sich im rechten Turm der Kathedrale nach oben wand. Da keine der Fackeln, die in den eisernen Halterungen steckten, mehr brannte und nur ein paar schmale Fenster in großen Abständen in die Wände eingelassen waren, drang nur wenig Licht ins Innere. Wir mussten vorsichtig sein, dass wir nicht stürzten und uns die Glieder brachen.
Trotzdem rannte ich so rasch nach oben, wie es meine Kräfte zuließen. Den Schürhaken hielt ich umklammert. Lea folgte mir dichtauf. Irgendwann, vielleicht auf halber Höhe des Turms, hielten wir inne, um Atem zu schöpfen. Auch nutzte ich die kurze Pause, um zu lauschen.
Nichts. Im Treppenhaus selbst schien alles still - so glaubte ich zumindest, denn draußen kündigte sich das Gewitter nun in Böen an, welche in unregelmäßigen Abständen um den Turm heulten und es mir schwer machten, ungewöhnliche Geräusche auszumachen. Ich konnte die gewundene Treppe nur einige Stufen weit hinaufsehen, sodass sich weiter oben eine Hundertschaft Landsknechte hätte verstecken können, ohne dass ich sie gewahrt hätte. Vorsichtiger schlichen wir weiter. So gelangten wir in einen überwölbten Raum, der zur Linken eine offene Pforte aufwies. Sie führte zur Galerie hinaus, die in schwindelnder Höhe die beiden Türme miteinander verband. Ich spähte kurz hinaus, da ich glaubte, dort einen entweichenden Schatten gesehen zu haben. Doch entdeckte ich niemanden auf dem schmalen, steinernen Gang. Nur ein paar Raben flatterten auf und krächzten böse. Selbst hinaustreten oder gar bis zum anderen Turm gehen wollte ich allerdings nicht — aus Angst, dass jemand, der sich oben unter der Spitze verbarg, mich auf dieser Galerie entdecken mochte.
Ich atmete tief durch — denn nun konnte, wer immer dort oben sein mochte, mir nicht mehr entkommen, falls er noch lebte. Ich hatte befürchtet, dass uns jemand im Turm beim Hinaufsteigen gehört haben könnte. Dann wäre es ihm möglich gewesen, vom rechten Turm bis zur Galerie hinabzusteigen, über die Galerie in den anderen Turm zu wechseln und die Kathedrale unerkannt zu verlassen, während Lea und ich uns noch auf dem Weg nach oben befanden. Nun hatte ich diesen Fluchtweg abgeschnitten — vorausgesetzt allerdings, der, den wir suchten, war uns nicht gerade auf eben jener Galerie entkommen.
»Weiter!«, keuchte ich.
Noch einmal kämpften wir uns wohl viele Dutzend Stufen hoch. Die Treppe wurde immer enger und wand sich immer steiler hoch. Ich fürchtete, dass uns jemand hier auflauern würde. Wir hätten ihn im Kampfe niemals überwinden können. Zugleich fürchtete ich, dass jener Schatten, den ich glaubte gesehen zu haben, uns nun folgen könnte und Lea angriff, die hinter mir war. Wir hätten in der Falle gesessen.
Doch wir gelangten unbehelligt nach oben.
Wir traten vom Treppenhaus in eine erstaunlich große, hohe, steingewölbte viereckige Kammer direkt unterhalb des stumpfen, an einen Beifried gemahnenden Abschluss des Kathedralenturmes. Einige schmale, doch hohe Fensterbögen ließen viel Licht von außen herein, doch waren die Scheiben an mehreren Stellen zersprungen. Drei schwarze Raben flatterten wild auf, als wir hereinstürmten. Ich schlug mit dem Schürhaken nach ihnen und vertrieb sie. Dann sah ich mich um.
Wir waren zu spät gekommen.
An der dem Eingang gegenüberliegenden Wand standen schwere Eichenkisten, manche waren fast mannshoch. Alle waren aufgeschlagen, bei manchen war der Deckel sogar abgerissen worden und lag daneben auf dem Steinboden. Und alle waren leer. Neben den Fenstern, sodass sie gut im Licht standen, befanden sich auch einige Schreibpulte. Auf einem lag noch ein kleines Messer, wie man es zum Abschaben zu tilgender Textpassagen verwendete. Auf dem Boden lagen einige Schreibfedern verstreut, außerdem war ein Tintenfass dort aufgeschlagen und zersprungen. Blaue Tinte hatte sich über die Steine ergossen. Sie war längst getrocknet. Es roch noch nach Pergament und Leder, doch außer einigen Fetzen, auf denen allerdings nicht eine einzige Zeile Text stand, waren keine Bücher oder Urkunden zu sehen.