Mitten in der Kammer lag ein Toter. Es war ein Mönch, den die Raben umschwirrt hatten. Ein Dominikaner. »Tretet nicht näher!«, warnte ich Lea.
»Glaubt Ihr, ich habe die letzten Tage mit verbundenen Augen zugebracht?«, antwortete sie mir. »Ich habe so viele grausige Tote gesehen, da werde ich auch diesen Anblick ertragen.«
So hielten wir uns denn an den Händen, um uns gegenseitig Mut zu verleihen, als wir näher traten. Das Gesicht des Mitbruders, auch seine Arme und sein Oberkörper waren nicht nur von den Beulen entstellt, sie waren auch von den eisenharten Schnäbeln der Raben zerhackt worden. Und doch erkannte ich den Toten noch. »Es ist der Portarius«, flüsterte ich fassungslos.
Wer hätte für die Verschwörer besser kontrollieren können, wer das Kloster betrat - und wer es verließ! Ich hatte, wie mir erst jetzt klar wurde, dem alten Mitbruder gegenüber die unverzeihliche Sünde des Hochmutes begangen. Niemals hatte ich den Portarius für wahrhaftig wichtig gehalten, niemals hatte ich gedacht, dass er mir gefährlich werden könnte. Und doch wusste er fast immer, wann ich das Kloster verlassen hatte. Und, wer weiß, vielleicht hatte er auch gesehen, wie ich mich vor dem Kloster in der Rue Saint-Jacques mit Magdalena, der Dienerin Klaras getroffen hatte — und mit Lea. Ein Auge der Inquisition.
»Die Seuche hat ihn dahingerafft«, sagte Lea, die blass geworden war, deren Stimme jedoch gefasst klang. »Wie lange mag er schon tot sein?«
»Ein paar Stunden vielleicht«, murmelte ich. »Er stinkt nach Fäulnis wie alle Unglückseligen, welche die Krankheit in sich trugen. Doch ich rieche noch nicht den süßlichen Hauch der Verwesung.« Lea deutete auf die geplünderten Kisten und die leeren Schreibpulte. »Dann sind seine Mitverschwörer uns nur ein paar Stunden zuvorgekommen.«
»Doch mit all dem Gold und Silber werden sie langsam sein!«, rief ich, eilte zu einem Fenster in der linken Seite des Turms und starrte hinaus.
Ais ich nur wenige Stunden zuvor an der Place de Greve angelangt war, da hatten mich die Tänzer in ihrem schauderhaften Reigen so in Angst versetzt, dass ich blindlings auf die Insel gelaufen war. In meiner Furcht hatte ich weder nach links noch nach rechts geblickt — und so hatte ich nicht bemerkt, ob die Kogge noch im Hafen lag oder nicht. Dann hatte ich Lea gesucht, anschließend war ich, besessen von meinen eigenen Dämonen, in die Kathedrale gestürzt. Nun beklagte ich innerlich meine Hast und meine Angst.
Ich spähte Richtung Hafen. Der andere Turm versperrte mir einen Teil der Sicht. Auch war der Himmel nun vollständig schwarz. Blitze zuckten über das Firmament und warfen grelles Licht über die Dächer, das die Augen blendete. Der Rauch des Scheiterhaufens, um den die Tänzer ihren Reigen drehten, zog in dichten grauen Schwaden herüber.
Trotzdem sah ich einen Mast aufragen, höher als den aller anderen Schiffe: Die »Kreuz der Trave« war noch da.
Als ich jedoch genauer hinsah, bemerkte ich Bewegungen an Bord. Schatten huschten hierhin und dorthin. Der Rauch des Feuers wurde immer dichter, die Wolken schluckten auch das letzte Sonnenlicht, ich vermochte nicht mehr genau zu erkennen, was dort vor sich ging. Doch ich glaubte, dass sich Gestalten am Segel zu schaffen machten und andere an den Leinen, welche die Kogge mit dem Kai verbanden. »Schnell!«, rief ich, in höchster Angst. »Wir müssen zum Hafen!« Ich wollte die Treppe wieder hinabstürzen — doch da stand ein Schatten in der Pforte und versperrte uns den Weg.
*
Philippe de Touloubre sah aus wie der Engel des Todes. Seine Kutte war schmutzig und mit Blut befleckt. Seine Züge waren von Beulen und Wundmalen entstellt. Er stank wie ein Wesen der Hölle, seine Augen glänzten fiebrig und in seiner Linken blitzte die lange, scharfe Klinge eines venezianischen Dolches.
»Ich ahnte, dass du es irgendwie bis hier hinauf schaffen würdest, Bruder Ranulf«, stieß er keuchend hervor. »Oh, du wärest ein guter Inquisitor geworden, vielleicht der beste der Christenheit! Doch statt Ketzer zu jagen, bist du selbst zu einem geworden. Sogar eine Jüdin bringst du hinauf in die Kathedrale von Paris!« Meine Seele war kalt. Ich war ruhig, alle meine Sinne waren so klar, wie sie es wohl niemals zuvor und auch niemals danach wieder waren. Ich hob den Schürhaken.
»Gebt den Weg frei, Meister Philippe«, flüsterte ich.
»Niemals!«, rief er irre lachend. »Du wirst die Kogge nicht aufhalten können. Du wirst GOTTES Plan nicht stören!«
»GOTTES Plan?«, sagte ich verächtlich. »Ein menschlicher Plan ist dies - und Menschen mussten dafür sterben.«
»So wie auch ihr sterben müsst!«, stieß der Inquisitor hervor. »Hier werdet ihr fallen und die Raben werden euch fressen.« Mit diesen Worten sprang Philippe de Touloubre auf mich zu. Ich wollte ihn mit dem eisernen Haken treffen, doch ich bin ein Mann GOTTES und ein Mann der Bücher, kein Kämpfer. Bevor ich überhaupt nur zum Schlag ansetzen konnte, stand mein Gegner vor mir und stieß mir den Schürhaken aus der Hand.
Wir stürzten zu Boden, krachend brach ein Schreibpult, das im Weg stand, unter dem Aufprall unserer Körper zusammen. Wir rangen mit der Kraft der Verzweiflung. Das zerfressene Gesicht des Inquisitors war nur eine Handbreit von meinem entfernt, sein fauliger Atem schlug mir ins Gesicht, ich roch Blut und Schweiß. Wir wälzten uns über den Boden und knurrten und keuchten dabei wie tollwütige Hunde. Verzweifelt hielt ich seine Linke umklammert, damit sein Dolch mich nicht träfe.
Plötzlich kam der Inquisitor jedoch auf mir zu liegen und drückte mich nieder. Ich hielt seine Linke in eisernem Griff, doch seine Rechte hatte sich in meine Fäuste gegraben, um mich zu schwächen. Langsam drückte er die Spitze des Dolches tiefer hinunter. Noch zwei Handbreit trennten sie von meiner Brust. Ich wand mich und versuchte, mich zu befreien, doch kam ich nicht von ihm los. Immer tiefer drückte er die Waffe. Noch eine Handbreit.
Dann schlitzte die Dolchspitze meine Kutte auf. Ich sah rote und schwarze Farben und hörte nur noch das Blut in meinen Adern rauschen und spürte schon das Eisen auf meiner Haut. Da hörte ich, wie aus großer Ferne, einen Schrei — und der Albdruck ließ nach. Mit letzter Kraft bäumte ich mich auf und warf Philippe de Touloubre von mir. Dann krümmte ich mich würgend zusammen, zu kraftlos, um mich noch zu regen.
Der Inquisitor war derweil aufgesprungen. Mit der Rechten tastete er seine Schultern ab, dann schrie er nochmals auf - als er sich ein kleines Messer aus dem Fleisch zwischen den Schulterblättern zog. Das Schabmesser von einem der Schreibpulte!
Lea war zurückgewichen und starrte den Rasenden mit angstvollen Augen an. Sie hatte mich gerettet, denn sie hatte Philippe de Touloubre das schmale, kurze Eisen in den Rücken gerammt. Voller Schmerz hatte er von mir abgelassen. Doch war die Verletzung nicht tödlich, ja, sie schien ihn nicht einmal geschwächt zu haben, denn nun hob er den Dolch und schlich Lea entgegen. Die wich zurück, doch kam sie nur ein paar Schritte weit, dann stand sie an der Wand und befand sich in der Falle.
Ich krümmte mich am Boden vor Erschöpfung und Schmerz. In meinem Geiste sah ich Jacquette, wie sie mit klaffender Wunde auf dem Pflaster lag. Ich sah Klara Helmstede, wie sie vom Folterknecht ins Verlies gestoßen wurde.
»Du wirst nicht wieder triumphieren!«, keuchte ich. Dann gab mir der Engel des Zornes Kraft. Mit einem gewaltigen Satz sprang ich auf, schrie wie ein Dämon und stürzte mich wieder auf Philippe de Touloubre.
Was dann geschah, das vermag ich bis heute nicht genau zu sagen. Wie ein Löwe hatte ich den Inquisitor angesprungen, wir beide waren wohl quer durch den halben Raum geflogen. Dann hörte ich ein Krachen und spürte einen heißen Schmerz in der Linken. Wir waren in ein Fenster gestürzt, dessen zersplitternde Scheibe mir die Hand aufschlitzte. Doch während ich am Glas und an einer steinernen Verstrebung hängenblieb, wurde Philippe de Touloubre hinausgeschleudert.