Für einen unendlich langen Augenblick war es vollkommen still. Der Inquisitor war verschwunden.
Dann holte ich Atem und trat vorsichtig an das zertrümmerte Fenster heran.
Die Dächer von Paris lagen weit unter mir, schauderhaft leuchtend unter den Blitzen des Gewitters. Die ersten, schweren Regentropfen klatschen herunter, der Wind heulte im Strebewerk und um die steinernen Dämonen der Kathedrale. Direkt vor mir, nur mit der Linken an einem schmalen Gesims festgeklammert, hing Philippe de Touloubre über dem Abgrund. Stumm starrten wir uns an.
Dann quälte sich der Inquisitor plötzlich ein Lächeln ab. »Reich mir die Hand, Bruder Ranulf«, bat er. Seine Stimme war wieder ganz ruhig, ja gütig. Sein Blick war klar.
Ich wusste nicht, ob er wollte, dass ich ihn packte, um mit ihm in die Tiefe zu stürzen, oder ob er wahrhaftig hoffte, dass ich ihn hinaufziehen würde. Ich sagte nichts, sondern schüttelte nur stumm den Kopf. Da lachte der Inquisitor laut auf und er rief, dass seine Stimme weit über Paris schallte, lauter noch als die Donnerschläge, die nun vom Himmel rollten: »Du kommst zu spät! GOTT vernichtet diese Welt — und wir errichten eine neue!«
Dann ließ der Inquisitor von Paris das Gesims los und stürzte in die Tiefe. Unten auf dem Platz flatterten ein paar Raben auf und krächzten wütend.
*
Wie gelähmt starrte ich hinunter, wo ich den zerschmetterten Körper Philippe de Touloubres nur erahnen konnte. Den Körper des Mannes, den ich bewundert, ja, den ich geliebt hatte. Der mir, mehr als jeder andere Mann auf Erden, der Vater hätte sein können, den ich nie gehabt hatte. Ich spürte, wie mir Tränen über die Wangen rannen, und ich hörte eine Stimme aus dem Abgrund, verlockend und süß: »Spring!«, flüsterte sie. »Es ist so einfach. Spring!« Da spürte ich einen sanften, doch festen Griff an meiner Schulter. Lea zog mich zurück vom Fenster und schloss mich in ihre Arme. So wurde mir denn zum zweiten Mal in jener finsteren Stunde von Lea das Leben gerettet.
»Wir müssen zur Kogge«, sagte sie beschwörend. »Es gibt sonst nichts mehr zu tun.«
Da nickte ich, schlug das Kreuz und dankte ihr. Dann stürzten wir mit der letzten Kraft, die uns noch geblieben war, die Treppe hinab und hinaus aus der Kathedrale Notre-Dame. Doch Satan hielt für uns schon die nächste Prüfung bereit. Obwohl nun der Regen in dichten Schleiern vom Himmel fiel, dass man kaum ein Dutzend Schritte weit sehen konnte, roch ich doch den Qualm eines riesigen Feuers und schon von weitem hörten wir das Prasseln von Hölzern in lodernden Flammen.
Wir erreichten außer Atem den Grand Pont - und sahen, dass die dicht nebeneinander liegenden Schiffe im Hafen lichterloh brannten. War dort ein Blitz eingeschlagen? Waren die Flammen des Scheiterhaufens übergesprungen, getragen von einer Windböe? Was tat das nun noch zur Sache? Auf der Seine jedenfalls stand eine riesige Wand aus Flammen und Rauch, da Schiffe, Kähne, Kais und abgestellte Fässer und Ballen loderten. Die nackten Tänzer hatten sich am Ufer versammelt und schrieen und sangen, die Vaganten spielten fröhliche Weisen dazu. Niemand versuchte, den Brand zu löschen.
Umringt von Feuer lag die »Kreuz der Trave« im Wasser. Ich sah Gestalten dort an Deck. Eine, so schien mir, hatte langes blondes Haar, halb verborgen unter einer dunklen Kappe. Dieser Mensch allein rührte sich nicht, sondern stand am Mast wie eine Statue. Die anderen an Bord rannten hierhin und dorthin wie Ameisen, denen ein Riese den Bau zertreten hat. Die Leinen waren gelöst worden. Das Segel hing halb aufgezogen und schief am Mast, doch hatte der Wind trotzdem das Tuch gebläht und trieb die Kogge langsam voran. »Haltet ein!«, schrie ich. »In GOTTES Namen, haltet ein!« Doch wie laut ich auch rief, meine Stimme verklang im rollenden Donner, im Krachen des brennenden Holzes, in den Hohngesängen und lauten Weisen der irre gewordenen Tänzer und Musiker. So glitt die »Kreuz der Trave« — halb segelnd, halb in der Strömung treibend — in eine riesige Flammenwand hinein, die fast den ganzen Fluss versperrte, bis der Segler meinen Blicken entschwand. Lea und ich blieben auf dem Grand Pont stehen und sahen dem Geisterschiff nach, bis wir vor Rauch und Flammen zurückweichen mussten.
Nie werde ich wissen, ob die Kogge den Schatz der Templer an Bord trug oder nicht. Nie werde ich wissen, ob sie all die gestohlenen Werke der Geografie an Bord trug oder nicht. Nie werde ich wissen, ob Klara Helmstede wirklich an Bord war oder ich nur einer Einbildung aufgesessen war. Ja, ich weiß bis heute nicht einmal, ob die »Kreuz der Trave« in jener Flammenwand wahrhaftig verbrannt ist — oder ob sie nicht doch heil hindurchgesegelt ist.
Ich bete seither jeden Tag, dass die Kogge das Gold der Templer, das Wissen der Alten und meine ehemalige Geliebte in Sicherheit gebracht hat. Hin zu jenem geheimnisvollen Ort jenseits des Ozeans, von dem nun allein Lea und ich im Abendland noch wissen, dass er einst terra perioeci genannt worden ist.
18
DER KARTOGRAF AM ENDE DER WELT
Noch am selbigen Tage flohen Lea und ich aus der Stadt Paris, die uns das neue Babylon zu sein dünkte. Alle Mönche im Kloster Saint-Jacques waren, so weit ich weiß, der Seuche erlegen. So gab es dort niemanden mehr, der die Totenbücher führen konnte - und deshalb galt auch ich als verschieden.
Leas Vater war tot. Sie hatte in Frankreich keine näheren Verwandten mehr, niemand hatte sie mehr erblickt, seit die Inquisitoren und Sergeanten ihr Haus geplündert hatten. Auch sie galt aller Welt deshalb als Opfer der Seuche.
So gab es keinen Menschen auf dem Erdenrund, der sich an uns erinnerte, und keiner vermisste uns.
GOTT in seinem unermesslichen Ratschluss gefiel es jedoch, uns das Leben zu schenken. Wir, die wir Sünder waren, erkrankten all die schrecklichen Tage lang nicht, obwohl doch Bischöfe und Herzöge vor dem Schwarzen Tod fielen.
Wir wählten kleine Wege, abseits der großen Straßen, vorbei an der verfallenen Abtei Saint-Germain-des-Pres. Auf den Feldern stand das Getreide hüfthoch und manchmal sahen wir einen Bauern, der, mit der Sense in der Hand, bei der Feldarbeit gestorben war. Tag und Nacht heulten Wölfe gar schauderhaft. Doch auch vor ihnen schützte ER uns. Waren wir hungrig, so fanden wir stets ein verlassenes Haus, in dem wir Brot, Bohnen oder Zwiebeln entdeckten. Waren wir durstig, so gelangten wir stets an einen Brunnen oder Fluss, der uns klares Wasser bot.
Spiritus ubi vult spirat et vocem eius audis sed non scis unde veniat et quo vadat sie est omnis qui natus est ex Spiritu.
Schließlich gelangten wir nach vielen Wochen des Reisens bis ins Land Spanien und dort bis zur Küste des Atlantischen Ozeans, zur Hafenstadt Palos.
Irgendwann entließ die Pest die Christenheit aus ihrem Würgegriff. So war dies denn doch nicht das Ende der Welt, das wir alle heraufdämmern zu sehen glaubten. Doch wohl jeder zweite Mensch war dahingegangen und es herrschte eine schreckliche Leere in den Städten der Christenheit.
So wurden wir denn in Spanien mit offenen Armen empfangen, da jedermann, der ein verlassenes Haus bewohnen wollte und einem Gewerbe nachging, zu jener Zeit willkommen war. Ich hatte auf unserem Weg längst meine Kutte abgelegt und gegen die Kleidung eines Händlers getauscht, die ich in einem Haus gefunden hatte. Haare waren mir über meine Tonsur gewachsen und erst von diesem Zeitpunkt an nannte ich mich Ranulf Higden. Meinen vorigen Namen verschweige ich, aus Furcht vor der Inquisition — denn auch diese hat die Pest überlebt.
Nach Spanien gelangten Lea und ich als Mann und Frau, obwohl wir nie geheiratet hatten. Doch wer fragte in jener düsteren Zeit schon nach Dokumenten und Zeugen?