Ich störte die Marktfrau bei ihrem Geschäft, also trug sie mich hinter eine Stiege, bevor sie sich entleerte. Dann kam sie wieder zu mir, sah, dass ich noch lebte, und trug mich fort.
Das zumindest erzählten mir die Dominikaner später, zu deren Pforte die Marktfrau mich brachte. Den Namen meiner Retterin habe ich nie erfahren, doch GOTT sei ihrer Seele gnädig. Quis horum trium videtur tibi proximus fuisse Uli qui incidit in latrones. At ille dixit qui fecit misericordiam in illum et ait illi Iesus vade et tu fac similiter.
»Ranulf von der Vierlingspforte« nannten mich die anderen Novizen später häufig oder, zumindest die älteren und stärkeren, »Ranulf vom Abtritt«. Oft ging ich dann, der HERR vergebe meine Sünden, mit den Fäusten auf die anderen Jungen los und büßte dafür in einer dunklen Klosterzelle bei Wasser und Brot.
Jahre sollte es dauern, bis ich erkannte, dass die Schmach eine Probe GOTTES ist, auf dass wir nicht der Todsünde des Hochmuts erliegen.
Die Dominikaner zu Köln hatten mich aufgenommen, bei ihnen blieb ich meine ganze Jugend lang. Manchmal träumte ich davon, dass meine Eltern zurückkehren und sich zu erkennen geben würden. Dass sie hoher, gar königlicher Geburt seien und sie nur ein dunkles Schicksal auf Jahre davon abgehalten habe, mich als. ihren Sohn anzuerkennen. Ich hoffte, dass sie mich hinausholen würden in die Welt, dass ich eine Familie hätte, dass ich ein Ritter, ja ein Retter des Reiches sein würde, dass ich gar, wer weiß, als Thronerbe Anspruch hätte auf den Titel Kaiser des Heiligen Römischen Reiches. Welch nichtige, anmaßende Hoffnung!
Niemals klopfte irgendjemand an die Klosterpforte, um nach mir, um nach irgendeinem der Findelkinder im Kloster zu fragen. So wurde ich einer von vielen pueri oblati im Dominikanerkloster zu Köln, das sehr groß und überaus angesehen war und wo deshalb viele Waisenkinder abgegeben wurden. Dort lernte ich die disciplina kennen, die mönchische Zucht.
Wenn sich jemand in reiferen Jahren entschließt, ins Kloster zu gehen, wie schwer mögen ihn da die kargen Umstände ankommen, unter denen man hinter den schweigenden Mauern Jahr um Jahr verbringt?
Doch ich kannte weder Samt noch Seide, nicht einmal Leder oder Tuch, ich hatte nichts anderes als die kratzige Wolle des groben dunklen Skapuliers auf der Haut, darunter nur in bitteren Wintern eine nicht weniger grobe Tunika und am Fuß lederne Sandalen. Ich wusste nicht, dass man in weicheren Betten ruhen konnte als auf dem Strohlager. Ich wusste nicht, dass sich andernorts Menschen zum Schlafen in eigene Räume zurückziehen konnten — ich kannte nur das Dormitorium, wo ich zusammen mit Dutzenden Mitbrüdern lag und wo beständig Seufzer und Schnarchen, hin und wieder auch heimliches Geflüster und wohl auch unflätigere Geräusche durch den dunklen Schlafraum waberten wie Geister in einer Höhle. Ich wusste nicht, oder ich dachte zumindest nie darüber nach, dass die meisten Menschen, vom Kaiser bis zum Bettler, sich abends auf ein Lager werfen, das sie erst am nächsten Morgen wieder verlassen — mir war es ins Blut übergegangen, mich zusammen mit allen Mitbrüdern um Mitternacht zu erheben, durchs nachtkalte Kloster bis in die Kirche zu wanken, um dort in die Vigilien einzustimmen, das erste Gebet des Tages: Singet dem HERRN ein neues Lied; singet dem HERRN alle Welt! Ich lernte, dass der Körper zwar das Gefäß meiner unsterblichen Seele, aber auch deren größter Verführer ist. Der Todsünde der Völlerei entgingen wir, indem wir kaum mehr als Hirsebrei und Fladen, als Wasser und gelegentlich schales Bier zu uns nahmen. Und als ich in das Alter eintrat, da den Mann die Fleischeslust ankommt, da wappnete ich mich, indem ich Nächte lang auf dem kalten Kirchenboden ausgestreckt vor dem Bild Unserer Heiligen Mutter betete. Ich schämte mich meiner sündigen Gedanken, die mich heimsuchten, obwohl es kaum je möglich war, auch nur einen Blick auf eine Frau zu werfen. Selten waren die Augenblicke, da ich einmal die Haube einer Magd sah, die irgendetwas vom Markt brachte, oder den Schleier einer der vornehmen Kölnerinnen, die einen ihrer Söhne zur Schule ins Kloster gab. Da mich jedoch selbst solche zufälligen, nie mehr als einen Augenblick währenden Offenbarungen des Weiblichen zutiefst in Verwirrung stürzten, wusste ich bald um die Gefahr der Frau für mein Seelenheil. Schnell lernte ich, die Töchter Evas zu verachten und zu fürchten als wahre Helferinnen Satans. Nescitis quoniam corpora vestra membra Christi sunt tollens ergo membra Christi faciam membra meretricis absit. An nescitis quoniam qui adheret meretrici unum corpus efficitur erunt enim inquit duo in carne una. Im Alter von vierzehn Jahren wurde ich Novize. Im Jahr darauf legte ich die Profess ab. Der Eid band mich endgültig, wie ich dachte, ans Kloster. Ich verpflichtete mich den drei wichtigsten Regeln eines jeden Mönches: stabilitas loci — ich würde im Kloster bleiben; conversatio morum — mein Lebenswandel würde stets sittlich sein; und, mehr als alles andere, oboedientia — ich versprach Gehorsam. Nicht in den schlimmsten Träumen hätte ich zu jener Zeit daran gedacht, auch nur eine dieser Regeln zu brechen. So wuchs ich heran, zusammen mit zwei Dutzend jungen Mönchen. Schon früh strebte ich nach den Früchten des Geistes. Ich lernte in der Klosterschule die Sieben Freien Künste und der HERR ließ mich Wissen einsaugen, wie der nach einem langen, dürren Sommer ausgetrocknete Erdboden den ersten Herbstregen aufnimmt. Die anderen Mönche spotteten immer seltener über mich - oder zumindest lästerten sie nur noch heimlich meiner und nicht mehr offen, je weiter unser curriculum voranschritt. Meine Mitbrüder liebten mich nicht, der ich ihnen im Unterrricht in allem voraus war, doch brachten sie mir nun wenigstens Respekt entgegen. Und manchmal meinte ich gar schon damals, ein anderes Gefühl zu spüren, wenn sie mich, vermeintlich unbeobachtet, aus den Augenwinkeln betrachteten. Angst.
Arithmetik und Astronomie, Geometrie und Musik fielen mir leicht, doch verwendete ich nicht mehr Zeit und Mühsal des Gedankens darauf als notwendig. Doch wie sehr liebte ich Grammatik, Rhetorik und, besonders, Dialektik: questio, disputatio, conclusio, Frage, Streitgespräch, Lösung. Die Logik offenbart uns GOTTES Gesetz: klar und schön und unerbittlich. Sie hilft uns, auch aus größter Verwirrung und Verdunkelung des Geistes zurückzufinden ans Licht der Erkenntnis. Falschheit und Trug zerreißt sie, wie ein erfahrener Tuchhändler, der ein minderwertiges Vlies mit verächtlicher Geste zerfetzt. Ich lebte hinter Klostermauern - und doch tat sich mir eine Welt auf, unendlich viel weiter als die Welt der Ritter, ja selbst als die Welt der Kaufleute. Mochte Messer Marco Polo aus Venedig auch bis nach Cathay gelangt sein und bis Cipango am Weltenrand, die Grenzen meiner Welt waren noch viel weiter gesteckt.
Im Armarium, der Bibliothek, studierte ich die Heilige Schrift. Gierig fraßen meine Augen auch die Seiten anderer sakraler Schriften: Sakramentar, Antifonar, Missale - ich las alles. Dann wagte ich mich an Augustinus. Anschließend studierte ich Albertus Magnus und den unvergleichlichen Thomas, die beiden Leuchten der Christenheit und Zierden des Ordens, dessen Tracht ich selbst nun mit jedem Tag um ein weniges stolzer trug. Lehrte Albertus Magnus nicht auch in Köln? Er und Thomas waren mir auch die Führer, die meinen Geist an die Hand nahmen zu den Weisen alter Zeit, welche die Gesetze des Kosmos ergründeten, welche man jedoch nur mit Vorsicht studieren durfte, da sie ja Heiden waren: Aristoteles und Platon zeigten mir, wie ich zu denken hatte.
Als ich dann auch noch die fast tausend Jahre alte »Etymologiae« des Isidor von Sevilla gelesen, ja beinahe auswendig gelernt hatte, da glaubte ich, nun alles zu wissen, was es in dieser Welt zu wissen gab. Oft schlich ich mich nach den Vigilien, wenn die Mitbrüder müde zurück zu ihren harten Pritschen schwankten, in die Bibliothek, entzündete einen Kerzenstumpen und beugte mich über die schweren Folianten, die so herrlich nach Pergament und Leder und Weisheit dufteten.