Kurz darauf erschien Isachar. Ich warf noch rasch einen Blick in das Logbuch. Die letzte Eintragung lautete: »Stellte um 01.35 einen Verdächtigen. Er behauptete, auf Nummer 14 zu wohnen. Wurde nachgeprüft. Wohnt auf Nummer 14. Das ist alles, glaube ich. Schluß.«
Wir begannen unsere Wache. Isachar hatte seine Französische Revolution geschultert, ich trug die meine in der Hand. Sie besaß einen kräftig ausladenden Kolben, und wer damit eins über den Kopf bekam, war nicht zu beneiden.
»Gehen wir ein wenig«, schlug Isachar vor. »Es regnet nicht.«
Wir fielen in Marschtritt, um militärischer zu wirken. Die Patronen in meiner Tasche zogen meine Hosen hinab und ließen meine Moral steigen. Achtung, hier kommen wir, links-rechts, links-rechts, schlaft ruhig, Nachbarn, wir schützen euch.
Das einzige, was meine patriotische Hochstimmung ein wenig trübte, war die Monotonie des Unternehmens. Die trostlose Eintönigkeit. Wie lange kann man denn als erwachsener Mensch um einen Häuserblock herummarschieren, herum und wieder herum, und wenn's vorbei ist, nochmals herum?
»Dauert's noch lange?« fragte ich nach einer Stunde meinen Waffengefährten. Er warf einen Blick auf die Uhr.
»Noch drei Stunden und vierundfünfzig Minuten.«
Wir waren also erst sechs Minuten auf Wache. Merkwürdig. Ich hatte den Eindruck, daß wir uns schon dem Ende näherten. So kann man sich täuschen.
Isachar teilte mir mit, daß er um sechs Uhr aufstehen müsse. Eine dringende Arbeit in Sichron. Er ist in der chemischen Isolierungsbranche tätig. Das heißt, er stopft Mauerlöcher, damit's nicht hineinregnet.
»Es gibt jetzt eine Menge neuer Präparate«, belehrte er mich. »Wir verwenden keinen Kitt mehr, sondern eine großartige neue Flüssigkeit. Polygum. Auf Polyesterbasis. Wirklich hervorragend. Klebt nicht an der Kelle und trocknet in zwei Tagen. Wenn's nicht regnet.«
Ich hing an seinen Lippen und warf von Zeit zu Zeit eine fachmännische Frage dazwischen, zum Beispiel über die Widerstandskraft von Polybumsti oder wie das heißt. Man kann ja nicht stundenlang mit einem Menschen umhermarschieren, ohne ein Wort zu äußern.
»Es stimmt, die Belgier haben ein Isolationsmaterial auf den Markt gebracht, das keine Luftblasen macht«, gestand Isachar. »Aber das taugt meiner Meinung nach nur für undicht gewordene Grundmauern, die keiner direkten Feuchtigkeit ausgesetzt sind. Wenn's um große, luftige Räumlichkeiten geht, käme es für mich nicht in Frage. Nicht für mich!«
Es war ihm anzusehen, daß man ihm ein Vermögen bieten könnte - und er würde dieses belgische Zeug nicht anrühren. Er ist ein Fachmann, er muß auf seinen Ruf bedacht sein, er ist ein Fels in der Isolierbrandung. Glücklich der Mann, den Isachar isoliert! Was mich betrifft, so wurde ich mit der Zeit ein wenig nervös. Ich interessiere mich sehr für alles Chemische, aber nicht die ganze Nacht hindurch. Verstohlen blickte ich nach meiner Uhr: 40 Minuten vergangen. Also noch 3 Stunden und 20 Minuten gründlicher Isolierung.
»Dubcek« - ich versuchte dem Gespräch eine scharfe Wendung zu geben - »Dubcek wollte protestieren, als die Russen damals in die Tschechoslowakei einmarschierten, du erinnerst dich...«
Mir schwebte ein Themawechsel zum Politisch-Historischen vor. Allmählich hoffte ich bis zu Stalin zu gelangen. Die Tschechoslowakei schien mir ein guter Ausgangspunkt zu sein.
Isachar ging bereitwillig darauf ein.
»Ganz in der Nähe von hier wohnt ein tschechisches Ehepaar. Vorige Woche habe ich ihnen das Dach repariert. Mit einem Spezial-Silikonmantel auf Polyesterbasis.«
Verzweifelt hielt ich nach irgend etwas Ausschau, was für Zivilschutz geeignet gewesen wäre, aber die Gegend war niederschmetternd friedlich. Isachar fuhr fort, mir von seinen glorreichen Isolationsmanövern zu erzählen. Es gab im weiten Umkreis nichts, was er nicht zugestopft hätte, ausgenommen seinen Mund. Ich versuchte es nochmals mit dem Dubcek-Gambit, aber nach zwei Zugwechseln waren wir wieder auf der Polyesterbasis. Meine Uhr zeigte 4.15, und die Sonne wollte nicht aufgehen. Schon um mich wachzuhalten, stellte ich immer weitere Fragen, und Isachar erteilte mir immer weitere Auskünfte.
»Einmal«, so berichtete er um 5.20 Uhr, »hat mir Schechter eine Gallone Plastikzement verkauft. Auf halbem Weg nach Rischon schaue ich nach - und was muß ich sehen? Das Zeug ist hart wie Granit. So etwas kann mir mit amerikanischem Polyester nicht passieren. Aber wie willst du feststellen, ob die Flüssigkeit, die du kaufst, aus Amerika kommt? In einem neutralen Behälter? Wie willst du das feststellen?«
Ich wollte gar nichts feststellen, schon längst nicht mehr. Wenn zwei Eheleute eines Tages entdecken, daß sie nicht zueinander passen, lassen sie sich scheiden. Auch alte Geschäftspartner gehen gelegentlich auseinander. Nur ein Zivilschützer wie ich bleibt hoffnungslos einzementiert. Und es fehlten noch anderthalb Stunden.
»Halt!«
Ich stellte eine verdächtige Katze und verjagte sie aus unserem Rayon. Dann lehnte ich mich erschöpft an die Hausmauer...
Ich muß stehend eingeschlafen sein. Isachar klopfte mir auf die Schulter, um mich zur Fortsetzung unserer Marschtätigkeit aufzufordern. Aber er schwieg. Offenbar hatte ich meine fälli ge Gegenfrage versäumt.
»Und was«, fragte ich, »wenn das Zeug nicht rechtzeitig trocknet?«
Es war einer der größten Fehler meines Lebens. Isachar kam mit der Beantwortung meiner Frage bis 6.15 Uhr aus. Ich betete zu Gott, er möge uns ein paar Terroristen über den Weg schicken, damit ich endlich etwas anderes zu tun bekäme, als dieses entsetzliche Isoliergewäsch über mich ergehen zu lassen.
»Und was das beste ist«, fuhr Isachar erbarmungslos fort, »als Schechter mir das nächste Mal so einen Kanister andrehen wollte -«
An dieser Stelle geschah es. Nach den Berichten von Augenzeugen, die auf die Straße gestürzt kamen, begann ich wild in die Luft zu schießen und brüllte jedem, der sich mir näherte, allerlei unverständliche Befehle zu, wie: »Polyester in Dekkung!«, »Zement - Feuer!« und dergleichen mehr. Man konnte mich nur mit Mühe beruhigen.
Übrigens erfuhr ich, daß ich nicht das erste Zivilschutzopfer war. Schon vor mir hatte ein Zivilschützer, nach vierstündigem Wachdienst mit einem Installateur, durch Gewehrsalven größeren Sachschaden an den Fensterscheiben der umliegenden Häuser verursacht.
Um sieben Uhr früh deponierten wir unsere Ausrüstung im Hauptquartier. Isachar entkam nach Hause und wollte, wie Wechsler mich ein paar Tage danach wissen ließ, nie wieder mit mir zusammen Wache schieben. Ich hätte ihn, so sagte er, mit meinen Fragen zu Tode gelangweilt.
Wie man Terroristen terrorisiert
Die Sache sah nicht gut aus. Das entführte Flugzeug war vor wenigen Minuten gelandet, die Terroristen hatten ihre Forderungen gefunkt und abschließend bekanntgegeben, daß sie im Nichterfüllungsfall die zur Explosion vorbereiteten Sprengstoffladungen zünden würden. Im Kontrollturm des Flughafens Lydda beriet der Krisenstab, was zu tun sei.
»Es gibt nur einen Ausweg - man muß die Bande ermüden. Man muß ihre Spannkraft zermürben, womöglich bis an die Grenzen eines Nervenzusammenbruchs.«
»Sehr schön. Aber wie?«
»Auch darauf gibt es nur eine Antwort: Schultheiss!«
Zehn Minuten später, im Wagen des Generalstabchefs und mit Blaulichteskorte, erschien Ezechiel Schultheiss, der Star unseres bürokratischen Establishments. Er kam direkt aus dem Spital, wo er mit den Führern der Bäckergewerkschaft über eine zweiprozentige Tariferhöhung verhandelte, und zwar ununterbrochen seit drei Tagen und drei Nächten. Im Lauf der Verhandlungen waren sämtliche Bäcker unter schweren Erschöpfungssymptomen ins Spital eingeliefert worden, nur Schultheiss hatte nichts von seiner Frische eingebüßt. Jetzt wurde er vom Verteidigungsminister persönlich instruiert.