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Sie öffnete die Augen, als sie die Berührung fühlte, blinzelte — und versetzte Indiana blitzartig einen Fausthieb auf die Nase.

Indiana plumpste schwer zu Boden und schlug die Hand vor die Nase, während Joana ihn einen Moment lang völlig irritiert anblinzelte, ehe sich ihr Blick ganz allmählich klärte.

Im ersten Moment sah er nichts als Schrecken in ihren Augen, dann erkannte sie ihn, und aus ihrem angstvollen Wimmern wurde endlich ein ungehemmtes Schluchzen. Sie streckte die Arme aus, klammerte sich an ihn und begann haltlos zu weinen.

Indiana wehrte sich nicht gegen ihre Umarmung, versuchte aber den Kopf zur Seite zu drehen, um ihre Bluse nicht mit dem Blut zu besudeln, das aus seiner Nase lief.

«Bist du okay?«fragte Indiana. Angesichts der Umstände war das eine ziemlich dämliche Frage, aber Joana nickte trotzdem, während ihre Tränen Indianas Hemd durchnäßten und Indianas Blut häßliche Flecken auf ihrer Bluse hinterließen.

Er gab ihr ein paar Augenblicke, um sich auszuweinen und mit dem schlimmsten Schrecken fertigzuwerden, dann stand er auf, zog sie vorsichtig mit sich in die Höhe und führte sie zu dem Stuhl, auf dem er zuvor selbst gesessen hatte. Behutsam setzte er sie darauf, ließ sich vor ihr in die Hocke sinken und hob ihr Gesicht mit der Hand an, um es zu untersuchen. Ihr Auge sah schlimm aus — sie würde ein wunderschönes Veilchen bekommen, noch ehe eine Stunde vergangen war. Aber sie schien — zumindest äußerlich — wenigstens nicht schwer verletzt zu sein.

«Alles in Ordnung?«fragte er noch einmal.

Joana verbarg das Gesicht zwischen den Händen und schluchzte noch lauter. Aber sie nickte, und nach ein paar Augenblicken nahm sie die Hände wieder herunter und sah ihn voller Schrecken an.»Wer war das?«fragte sie.

Indiana zuckte mit den Achseln. Er hatte den Mann zwar am Morgen gesehen, aber er wußte ebensowenig wie sie, wer er war, geschweige denn, warum er sie überfallen hatte.

«Ich weiß es nicht«, sagte er.»Ich habe den Burschen heute morgen gesehen, aber ich dachte, das wäre Zufall.«

Joana sah ihn verstört an.»Sie auch?«

«Wieso ich auch?«fragte Indiana verwirrt.

«Ich … hab’ ihn auch gesehen«, sagte Joana.»Er ist mir gefolgt, durch die halbe Stadt. Ich hatte schon Angst.«

Indiana schwieg einen Moment. Das konnte kein Zufall mehr sein. Aber noch gelang es ihm nicht, Sinn in dieses Puzzle zu bringen.

Sein Blick streifte wieder Joanas zerrissene Bluse, und er räusperte sich verlegen. Sie war vielleicht noch ein Kind, aber körperlich schon fast eine Frau; und sie trug weder Unterhemd noch einen Büstenhalter.»Deine Bluse …«, sagte er.

Joana hob erschrocken die Hand, um ihre zerrissene Bluse zu schließen, und dann fuhr sie noch einmal erschrocken zusammen und griff an ihren Hals.»Meine Kette!«

Sie sprang auf, vergaß ihre zerfetzte Bluse und tastete einen Moment lang wie wild mit beiden Händen über ihren Hals und die dünne, rote Linie darauf.»Meine Kette ist fort!«rief sie.»Er hat mir meinen Anhänger gestohlen!«

«Was für einen Anhänger?«

«Mein Vater hat ihn mir geschenkt!«sagte Joana. Sie war völlig aufgelöst. Der Verlust der Kette schien sie mehr zu erregen als das, was erst vor Augenblicken passiert war.»Es war eine dünne Goldkette mit einem Anhänger, der irgendeinen indianischen Gott zeigte. Quedsa…«

«Quetzalcoatl«, sagte Indiana und zog die linke Hand aus der Tasche. Zwischen seinen Fingern sah der kleine goldene Anhänger an der Kette heraus, den Greg ihm gegeben hatte.»Quetzal-coatl«, sagte er noch einmal.»Die gefiederte Schlange.«

Joanas Augen weiteten sich. Sie streckte die Hand aus, um nach der Kette zu greifen, führte die Bewegung aber nicht zu Ende.»Da ist sie ja. Aber wie …?«

«Das ist nicht deine Kette«, sagte Indiana ernst.»Das ist der Grund, aus dem ich hier bin.«

Joana sah ihn fragend an.

«Aber das muß sie sein. Ich erkenne sie ganz genau.«

Indiana schüttelte den Kopf.»Du hattest dieselbe?«

Joana nickte. Ihr Blick wanderte verwirrt zwischen dem kleinen goldenen Anhänger und Indianas Gesicht hin und her.»Ja, aber wieso … Ich meine … wie kommen Sie daran?«

«Dein Vater hat ihn mir gegeben«, antwortete Indiana.»Es war das letzte, worum er mich noch bitten konnte. Er hat ihn mir gegeben, damit ich ihn dir bringe. Das ist der einzige Grund, aus dem ich überhaupt hier bin.«

«Aber warum sollte er … das tun?«wunderte sich Joana.»Ich meine, wenn ich doch schon denselben Anhänger hatte.«

«Das frage ich mich auch«, sagte Indiana.»Vor allem frage ich mich, warum dieser Kerl hierher kommt, nur um dir diese Kette abzunehmen. Und noch etwas«, fügte er nachdenklich hinzu.»Ich bin gestern abend ebenfalls überfallen worden. Sie haben mich niedergeschlagen und meine Taschen durchsucht, aber sie haben mir nichts gestohlen. Nur mein Hemd zerrissen.«

Joana sah ihn aus großen Augen an.»Du meinst … Verzeihung, Sie meinen …«

«Bleib ruhig dabei«, sagte Indiana.»Ich duze dich ja auch.«

Joana lächelte und begann noch einmaclass="underline" »Du meinst, sie hätten es auf diese Kette abgesehen?«

«Hast du eine bessere Erklärung?«gab Indiana zurück.

Joana schüttelte den Kopf, aber sie wirkte nicht sehr überzeugend.»Aber sie ist völlig wertlos«, sagte sie.»Ich meine, sicher, sie besteht aus Gold, aber so wertvoll ist sie nun auch wieder nicht.«

«Ich glaube nicht, daß der Bursche es auf das Gold abgesehen hatte«, sagte Indiana nachdenklich.

«Aber wieso dann?«

«Wieso?«

Indiana zögerte noch einen Moment. Dann erzählte er ihr von seiner ersten Begegnung mit einem mordlustigen Riesen mit Maya-Gesicht; vor drei Jahren.»Ich habe es dir nicht erzählt, weil ich es für bedeutungslos hielt«, schloß er.»Aber jetzt … weißt du, je länger ich darüber nachdenke, desto sicherer bin ich eigentlich, daß auch dieser Indianer damals die Kette haben wollte, mehr nicht. Er hatte mich ja schon. Ich meine, ich war wehrlos. Er hätte mich umbringen können, wenn er gewollt hätte. Aber dann hat er plötzlich jedes Interesse an mir verloren und sich deinem Vater zugewandt. Es muß … etwas mit diesem Anhänger zu tun haben.«

Indiana zuckte mit den Schultern, schloß wieder die Hand um den Anhänger und ließ ihn nach kurzem Zögern erneut in der Tasche verschwinden. Ihn Joana zu geben oder auch wieder selbst am Hals zu tragen, beides erschien ihm im Moment nicht besonders ratsam.

«Das weiß ich nicht«, sagte er.»Aber ich glaube, ich werde dieser wunderschönen Señora Perez noch einmal einen Besuch abstatten. «Für die nächsten beiden Stunden jedenfalls kam er nicht dazu. Marten hatte die Polizei gerufen, und Indiana und Joana mußten die Geschichte von dem Überfall und dem Handgemenge mit dem Indio mindestens ein Dutzend Mal einem Dutzend verschiedener Polizeibeamten erzählen. Sie hatten sich, bevor die Beamten eintrafen, auf eine Geschichte geeinigt, die die beiden Medaillons unerwähnt ließ. Indiana wußte nicht genau, warum, aber er hatte das Gefühl, daß es im Moment noch besser war, wenn er dieses Geheimnis für sich behielt, und Joana hatte sofort zugestimmt. Vielleicht spürte sie es so wie er, vielleicht war sie auch einfach noch Kind genug, um sich dem Gefühl von Abenteuer hinzugeben, das dieses Verschweigen eines wichtigen Details für sie bedeuten mußte.

So hatten sie sich einfach auf die Version geeinigt, daß der Indio hereingestürmt sei und versucht hätte, Joana Gewalt anzutun, und es Indiana schließlich gelungen sei, ihn in die Flucht zu schlagen. Eine Geschichte, die ihnen keiner der Polizisten glaubte, wie unschwer auf ihren Gesichtern abzulesen war.

Trotzdem mußten sie sich wohl oder übel damit zufriedengeben, denn sowohl Indiana als auch Joana beharrten auf dieser Version, und nachdem man ihnen eingeschärft hatte, daß sie erstens am Nachmittag auf der zuständigen Polizeiwache erscheinen und das Protokoll unterschreiben und zweitens die Stadt in den nächsten achtundvierzig Stunden nicht verlassen sollten, durften sie gehen.