Indiana brach vor Erschöpfung zusammen. Eine Weile blieb er einfach so liegen, atmete keuchend ein und aus und wartete darauf, daß die Welt endlich aufhörte, sich um ihn herum zu drehen. Minutenlang konnte er nichts anderes tun, als einfach dazuliegen, zu atmen und dem rasenden Stakkato seines eigenen Herzens zu lauschen, das in seiner Brust hämmerte, als würde es jeden Moment zerspringen. Es schien keinen einzigen Knochen in seinem Körper zu geben, der nicht schmerzte; keinen einzigen Muskel, der nicht gezerrt war, und keinen Quadratzentimeter Haut, der nicht verbrannt, verbrüht oder aufgeschürft war. Der bittere Geschmack von Erbrochenem war in seinem Mund, und seine Augen tränten von dem Qualm und dem gleißenden Licht, in das er immer wieder hatte sehen müssen.
Es war nicht die erste gefährliche Situation, in der sich Dr. Indiana Jones befand; aber es war die schlimmste. Was als harmloser Spaziergang begonnen und als Abenteuer weitergegangen war, das hatte sich in ein Inferno verwandelt. Dabei erinnerte er sich kaum mehr, wie es angefangen hatte — alles war so schnell gegangen und scheinbar gleichzeitig passiert, daß die Bilder in seiner Erinnerung durcheinandergerieten und zu einem einzigen, irren Kaleidoskop des Schreckens wurden. Obwohl er versuchte, sich mit aller Macht gegen die Erinnerung zu wehren, stieg immer wieder dasselbe Bild vor seinem geistigen Auge auf: Swan-son, der plötzlich aufschrie und sich mit seinem eigenen Körper zwischen Indiana und die Feuerlohe warf, die ohne irgendeine Vorwarnung aus dem Krater des Vulkans emporschoß. Dabei waren sie sehr wohl gewarnt worden, dachte Indiana bitter. O ja, man hatte sie gewarnt, mehr als einmal, aber sie hatten ja nicht hören können — wie üblich. Für einen Moment glaubte er, noch einmal das Gesicht des alten Indios vor sich zu sehen, der sich ihrem Lastwagen mit ausgebreiteten Armen in den Weg gestellt hatte; eine schmale, zerlumpte Gestalt, deren Anblick fast mitleiderregend war, wie sie so auf der staubigen Hauptstraße von Piedras Negras stand und ganz allein den dröhnenden Koloß aus einer anderen Zeit aufzuhalten versuchte.
«Was willst du?«hatte Swanson ihn angefahren, kaum daß er den Wagen zum Stehen gebracht hatte und aus dem Fahrerhaus auf die Straße hinabgesprungen war, wo der Indio noch immer mit ausgebreiteten Armen stand, zitternd, das Gesicht ohne jedes bißchen Farbe und die dürren Beine unter dem zerschlissenen Poncho nur noch Zentimeter von der Stoßstange des Wagens entfernt, aber ohne zu weichen, und trotz aller unübersehbaren Furcht in seinen Augen von einer Würde, die Indiana vollkommen verwirrte.
«Bist du lebensmüde, du verrückter alter Mann?«brüllte Swan-son. Auch er war bleich und zitterte am ganzen Leib, aber Indiana begriff auch, daß das, was er im ersten Moment für Zorn gehalten hatte, nur der Ausdruck seines Schreckens war. Es hätte nicht viel gefehlt, und der fünf Tonnen schwere Laster hätte den alten Mann niedergewalzt.
Der Indio antwortete auf Swansons erregte Worte mit ruhiger, volltönender Stimme, die im krassen Gegensatz zu seinem erbarmungswürdigen Äußeren stand. Indiana konnte nicht verstehen, was er sagte, denn der Alte bediente sich eines Dialekts, den Indiana niemals zuvor gehört hatte. Zweimal glaubte er das Wort Quetzalcoatl zu verstehen, war aber nicht sicher, denn Swanson unterbrach den Indio sofort wieder, und diesmal brüllte der amerikanische Wissenschaftler wirklich vor Wut; und diesmal in derselben kehligen Sprache wie der Alte.
Einen Moment lang blickte der Indio Swanson noch mit einem Ausdruck an, der merkwürdig zwischen Trauer und Zorn schwankte, dann drehte er sich um und schlurfte mit hängenden Schultern davon.
«Was hat er gewollt?«fragte Indiana, als Swanson in den Wagen zurückkletterte und mit einer zornigen Bewegung den Anlasser betätigte; so heftig, daß der altersschwache Hebel um ein Haar abgebrochen wäre.
«Nichts«, antwortete Swanson — mehr als nur eine Spur zu hastig, um überzeugend zu klingen.»Gar nichts.«
Indiana sah ihn fragend an.»Gar nichts?«wiederholte er zweifelnd.»Du meinst, er hätte sich wegen gar nichts um ein Haar überfahren lassen?«
Swanson hatte den Motor endlich gestartet und hämmerte den Gang so grob hinein, daß das Getriebe hörbar knirschte.»Du weißt doch, wie abergläubisch diese alten Indios sind«, sagte er. Er lachte verkrampft.»Er hat den Lastwagen gesehen und behauptet, wir würden heiligen Boden entweihen, wenn wir mit dieser Teufelsmaschine in die Berge fahren.«
«Und dann hat er dir mit Quetzalcoatls Fluch gedroht«, vermutete Indiana.
Swanson fuhr kaum merklich zusammen und gab so heftig Gas, daß Indiana in den Sitz zurückgeschleudert wurde. Der uralte Motor des Lkw kreischte protestierend.»Quetzalcoatl? Wie kommst du darauf?«
«Weil er es gesagt hat«, antwortete Indiana.
«Hat er nicht«, knurrte Swanson.»Du mußt dich getäuscht haben.«
«Aber ich habe es ganz deutlich gehört«, widersprach Indiana.»Zweimal.«
«Dann hast du dich eben zweimal getäuscht«, behauptete Swanson.»Der Alte war verrückt, mehr nicht.«
Aber er war nicht verrückt gewesen, und Indiana hatte sich nicht getäuscht. Sie hatten den Zorn der alten Maya-Götter heraufbeschworen, und jetzt lag Swanson im Sterben, und wenn kein Wunder geschah, dann würde auch Indiana nur wenige Augenblicke länger leben als er.
Er verscheuchte dies düstere Bild, als er neben sich ein Geräusch hörte, das er erst nach wenigen Augenblicken als das qualvolle Stöhnen eines Menschen identifizierte. Swanson bewegte sich. Seine verbrannte Hand hob sich mühsam, tastete zitternd einen Moment blind herum und berührte schließlich Indianas Schulter. Langsam, mit mühevollen Bewegungen kroch sie weiter, glitt über seinen Hals und erreichte schließlich sein Kinn. Es war die Bewegung eines Blinden, der das Gesicht seines Gegenübers ertastet, weil er es nicht sehen kann.
Und Swanson war blind.
Ich habe gar kein Recht mehr, am Leben zu sein, dachte Indiana entsetzt, als sein Blick auf das zerstörte Gesicht seines Freundes fiel. Swansons Antlitz war schwarz, nicht dunkel, nicht voller Ruß, sondern schwarz. Nur hier und da schimmerte durch die Schlacke- und Rußschichten auf seinen Zügen das helle Rot verbrannten Fleisches, erinnerte eine Linie an das Gesicht, das er kannte, bahnte sich ein Tropfen Blut durch schwarzgebranntes Fleisch. Es war ein Anblick, der Indiana die Kehle zuschnürte; und nicht nur, weil dieses Gesicht so furchtbar entstellt war.
Eigentlich müßte ich an seiner Stelle sein, dachte Indiana matt. Er war es gewesen, der als erster an den Kraterrand getreten war, und er war es gewesen, nach dem der Vulkan seinen feurigen Atem gespien hatte. Swanson hatte ihm das Leben gerettet und sein eigenes dabei geopfert.
Indiana wußte, daß der Freund sterben würde. Es war ein Wunder, daß er überhaupt noch am Leben war. Kein Arzt der Welt würde ihn noch retten können. Und selbst wenn es denkbar wäre — bis in die Stadt waren es sieben, wenn nicht acht oder neun Stunden Fußmarsch, den Wagen hatten sie schon auf dem Herweg verloren, und Indianas Kräfte würden einfach nicht ausreichen, ihn so weit zu tragen.
«Indiana?«
Indiana lächelte, obwohl die erloschenen Augen seines Freundes es nicht mehr sehen konnten. Behutsam griff er nach Swan-sons Hand, nahm sie und hielt sie fest. Er spürte, wie heiß die Haut des Sterbenden war. Sein Herz schlug ganz langsam, aber so schwer, daß Indiana jeden einzelnen Schlag wie eine vibrierende Erschütterung spürte.
«Ich bin hier«, sagte er.
Swanson versuchte zu lächeln, aber das, was mit seinem Gesicht geschehen war, machte eine fürchterliche Grimasse daraus.»Bist du … okay?«fragte er mühsam.
Indiana nickte. Erst dann fiel ihm ein, daß Swanson auch das nicht mehr sehen konnte, so wie er überhaupt nichts mehr sehen konnte.»Mir fehlt nichts«, sagte er.»Ich habe nur ein paar Kratzer abgekriegt. Aber dich hat es ganz schön erwischt, alter Junge.«
«Ich weiß«, flüsterte Swanson.»Es ist … schlimm.«