«…Tochter«, verstand Indiana. Swanson sagte noch mehr, aber dieses eine Wort war das einzige, das er wirklich identifizieren konnte.
Swansons Hand löste sich aus der seinen, kroch langsam über seinen Oberkörper und versuchte, etwas unter dem Hemd hervorzuziehen. Indiana sah ein dünnes goldenes Blitzen und streckte ebenfalls die Hand aus. Sehr behutsam, um Swanson nicht noch mehr Qualen zu bereiten, löste er die dünne Kette mit dem kleinen goldenen Anhänger vom Hals seines Freundes und ließ sie in dessen offene Hand fallen. Swansons Finger schlossen sich mit einem Ruck darum, hielten sie für einen Moment mit aller Kraft fest und öffneten sich wieder.
«Gib das … meiner … Tochter«, sagte er. Er schien all seine Kraft mobilisiert zu haben, um diese vier Worte zu sprechen, denn seine Stimme wurde noch einmal klar und verständlich.»Bring es … ihr. Sag ihr … daß …«
Er sprach nicht weiter.
Und es dauerte fast zehn Sekunden, bis Indiana begriff, daß er den Satz nie beenden würde.
Er war tot.
Wieder füllten sich seine Augen mit Tränen, und diesmal versuchte er nicht mehr, sie zurückzuhalten. Minutenlang saß er einfach da und ließ seinem Schmerz freien Lauf, bis er sich wieder soweit in der Gewalt hatte, die Hand auszustrecken und vorsichtig die Kette mit dem kleinen Goldanhänger aus Swansons Fingern zu nehmen.
Der Anhänger war winzig, beinahe unscheinbar; kaum größer als der Nagel seines kleinen Fingers. Auf den ersten Blick wirkte er wie wertloser Tand, aber wenn man genauer hinsah, dann konnte man eine verborgene Eleganz und Kunstfertigkeit unter den scheinbar groben Linien erkennen. Er stellte eine zusammengerollte Schlange dar, aus deren Schädel ein weit gespreizter Federbusch wuchs: Quetzalcoatl, der gefiederte Schlangengott der Maya.
Die Geschichte der alten südamerikanischen Völker war Swansons Spezialgebiet gewesen. Indiana erinnerte sich gut an all die zahllosen Abende und Nächte, die sie zusammengesessen und über die Geheimnisse dieser versunkenen Hochkultur geredet hatten. Und sie war letztendlich auch der Grund ihres Hierseins. Swanson hatte ihm bis zum letzten Moment nichts wirklich Definitives erzählt, aber er hatte gewisse Andeutungen gemacht, aus denen Indiana geschlossen hatte, daß er im Inneren dieses erloschenen Vulkankraters etwas Sensationelles zu finden hoffte.
Das einzige, was er gefunden hat, dachte Indiana bitter, ist der Tod.
Zwei endlose Minuten saß er einfach da und blickte den winzigen, blitzenden Anhänger an, dann richtete er sich auf, wollte die Kette in die Tasche stecken und überlegte es sich im letzten Moment anders. Mit einer raschen Bewegung streifte er sie über den Kopf und verstaute den Anhänger sorgsam unter dem Hemd.
Indiana ging noch einmal zu dem toten Maya hinüber. Er war jetzt sicher, daß er sich die Gestalt unten im Wald nicht eingebildet hatte, sondern daß es sich um denselben Mann handelte. Er mußte ihnen vom Berg aus bis hierher gefolgt sein; und vielleicht schon vorher.
Vorsichtig und von dem absurden, aber sehr intensiven Gefühl erfüllt, etwas zu tun, das er besser nicht tun sollte, ließ er sich neben dem toten Riesen auf die Knie sinken und drehte ihn auf den Rücken.
Das Gesicht des Riesen war im Tode verzerrt, aber nicht einmal die für alle Zeit erstarrte Qual und die dicke Farbschicht konnten die charakteristischen Züge verbergen: die scharfe Nase, das breite Kinn und die leicht fliehende Stirn. Der Mann war ein reinrassiger Maya.
Indiana blieb so lange sitzen und blickte abwechselnd das Gesicht des toten Indios, den winzigen Quetzalcoatl-Anhänger und den feuerspeienden Vulkankegel an. Was um alles in der Welt hatte Swanson dort oben zu finden gehofft?
Er zögerte noch ein letztes Mal, ehe er sich erhob und langsam den Hügel hinabstieg. Swanson einfach hier liegenzulassen kam ihm wie ein Verrat vor, aber er hatte gar keine andere Wahl. Und Swanson hätte nicht gewollt, daß er jetzt etwas Dummes tat und vielleicht doch noch starb.
Dafür war der Preis, den er selbst für Indianas Leben gezahlt hatte, entschieden zu hoch.
Und plötzlich fühlte Indiana fast so etwas wie Trotz. Es war, als gehöre sein Leben jetzt nicht mehr ganz ihm. Mit dem, was Swanson getan hatte, hatte er es ein bißchen auch zu seinem eigenen gemacht, und er würde nicht zulassen, daß dieser verdammte Berg seinen Freund zum zweiten Mal umbrachte.
Rings um ihn herum stand der Wald in Flammen, und vielleicht verbargen sich irgendwo in diesem Dschungel noch mehr Nachkommen Montezumas, die ihm nach dem Leben trachteten, bebte die Erde und regnete Asche, glühendes Gestein und Flammen vom Himmel, aber irgendwie würde er es schon schaffen, hier herauszukommen.
Irgendwie.
3 Jahre später. New Orleans
Das PALLADIUM war eine Kaschemme. Das einzig Vornehme an ihm war der Name, der allerdings nicht einmal Überbleibsel aus besseren Zeiten, sondern schlicht und einfach dem Größenwahn seines Besitzers zuzuschreiben war. Das Lokal bot normalerweise Platz für dreißig, mit viel gutem Willen auch vierzig Gäste, aber der Türsteher draußen sorgte dafür, daß selten weniger als siebzig oder auch achtzig Personen anwesend waren. Das wiederum führte zu einem solchen Gedränge, Geschiebe und Durcheinander, daß es den Anwesenden einfach gar nicht möglich war, die Tür wieder zu erreichen, wenn sie erst einmal den Fehler begangen hatten, sich hereinlocken zu lassen. Die Luft war so dick und verräuchert, daß es völlig sinnlos war, dem Mann hinter der Theke mit Gesten etwas zu verstehen geben zu wollen; man mußte schon brüllen, um eine Bestellung aufzugeben. Was allerdings die wenigsten Gäste taten. Es hätte auch nicht viel Sinn gehabt — es gab sowieso nur die Wahl zwischen zwei Getränken: lauwarmem Bier und Whisky, von dem die Rede ging, daß der Besitzer des PALLADIUM ihn jede Nacht aus den Resten nicht ausgetrunkener Gläser selbst zusammenbraute. Seinem Geschmack nach zu schließen, entsprach das der Wahrheit.
Indiana Jones achtete im Moment aber weder auf das Gedränge rings um ihn herum, noch auf den goldbraunen Magenvernichter, dessen Farbe wahrlich das einzige war, was an diesem Getränk wirklich an Whisky erinnerte. Er konzentrierte sich voll und ganz auf das Blatt in seiner Hand.
Es war ein Full House. Dazu das schönste Full House, das er seit Jahren gesehen hatte. Drei Asse und zwei Könige, die er auf die Hand bekommen hatte, ohne ein einziges Mal tauschen zu müssen: eine Eins-zu-einer-Million-Chance.
Sein Gegenüber schien etwas in dieser Art zu befürchten, denn die Blicke, mit denen er Indiana schier durchbohrte, waren in den letzten Minuten immer nervöser geworden. Von den ursprünglich fünf Teilnehmern an der Pokerrunde waren nur noch sie beide übriggeblieben. Die anderen waren ausgestiegen und beobachteten das stumme Duell gespannt; ebenso wie zwanzig oder dreißig Schaulustige, die den Tisch in einem dichten Kreis umstanden.
Was auch weiter kein Wunder war: Das PALLADIUM war zwar dafür bekannt, eine Spielhölle zu sein, in der manchmal auch große Beträge über den Tisch gingen — aber einen Einsatz wie den, der jetzt zwischen Indiana und seinem Gegenüber auf dem Tisch lag, sah man selbst hier nicht jeden Tag. Indiana hatte längst die Übersicht verloren, wieviel es war. Er selbst war an diesem Abend mit hundert Dollar in der Tasche hierhergekommen, wie immer, wenn er spielen wollte. Ein Betrag, der ihm zwar weh tun, ihn aber nicht ruinieren würde, sollte er ihn verlieren. Aber er hatte ihn nicht verloren, sondern beständig gewonnen. Im Laufe des Abends war seine Barschaft von hundert zuerst auf tausend, dann auf zwei-, schließlich drei- und am Ende sogar mehr als viertausend Dollar angewachsen — und das alles lag jetzt zwischen ihnen. Das, derselbe Betrag, den sein Gegner dazuge-legt hatte, und noch einmal mindestens dasselbe: die Einsätze der anderen Pokerspieler, die nach und nach ausgestiegen waren. Selbst Indiana, der sich normalerweise nicht allzuviel aus weltlichen Gütern machte, wurde beim Anblick des gewaltigen Haufens zerknitterter grüner Dollarnoten ein wenig flau im Magen.