Als er die Lider hob, lief ihm Wasser in die Augen. Indiana blinzelte, hob den Arm und versuchte das Tuch samt der Hand, die es hielt, beiseite zu schieben. Er ertastete schmale, kühle Finger von erstaunlicher Stärke, und als sich die Hand nach einem Augenblick von sich aus zurückzog, blinzelte er durch einen Schleier aus Tränen und Wasser in ein schmales, von dunklem Haar umrahmtes Gesicht, das er im allerersten Moment für Joa-nas hielt.
Er erkannte seinen Irrtum fast im gleichen Augenblick. Es war nicht Joana, die neben ihm saß und sich um ihn kümmerte, sondern Josés Frau.
«Bleiben Sie liegen, Dr. Jones«, sagte Anita, als er sich automatisch in die Höhe stemmen wollte. Die Sorge in ihrer Stimme klang echt; ebenso wie die Besorgnis in ihrem Blick nicht geschauspielert war. Mit sanfter Gewalt versuchte sie, ihn auf das Bett zurückzudrücken, aber diesmal war Indiana stärker und schob ihre Hand beiseite. Mit einem Ruck setzte er sich auf und wäre um ein Haar beinahe wieder zurückgefallen, denn in seinem Kopf erwachte ein grausamer, pochender Schmerz, der so heftig war, daß ihm für einen Moment übel wurde.
«Was ist passiert?«stöhnte er, während er Daumen und Zeigefinger der Rechten gegen die Nasenwurzel preßte, als könne er den Schmerz auf diese Weise besänftigen.
«Ich hatte gehofft, daß Sie mir diese Frage beantworten können, Dr. Jones«, antwortete Anita.»Zwei von Bentleys Männern haben Sie draußen an Deck gefunden — bewußtlos und in einer riesigen Blutlache. Als sie Sie hereinbrachten, dachte ich im ersten Moment, Sie wären tot.«
Hinter Indianas Stirn wirbelten Bilder und Erinnerungsfetzen durcheinander, ohne im ersten Moment einen Sinn ergeben zu wollen.»Die Mayas …«murmelte er.»José …«
Und dann erinnerte er sich. Schlagartig und mit solcher Klarheit, daß er sich ungeachtet des immer noch rasenden Schmerzes zwischen seinen Schläfen ein zweites Mal aufsetzte. »Joana!«
Er richtete sich weiter auf und wollte die Beine vom Bett schwingen, aber Anita hielt ihn mit einer befehlenden Geste zurück. Indiana wollte ihre Hand wegschieben, doch diesmal ließ sie es nicht geschehen, sondern packte ihn im Gegenteil an der Schulter und hielt ihn mit erstaunlicher Kraft fest.
«Lassen Sie mich!«sagte Indiana matt.»Ich muß …«
«Sie müssen überhaupt nichts, Dr. Jones«, unterbrach ihn Anita streng.»Sie sind schwer verletzt worden. Das mindeste, was Sie sich eingehandelt haben, ist eine schwere Gehirnerschütterung; vielleicht Schlimmeres.«
Wie um ihre Worte zu bestätigen, steigerte sich das Dröhnen in seinem Kopf zu einem qualvollen Hämmern, und für einen Moment schien sich die ganze Kabine um ihn herum zu drehen. Er spürte, daß er abermals das Bewußtsein zu verlieren drohte, griff blindlings um sich und ertastete Anitas hilfreich ausgestreckte Hand.
«Ich muß … Joana suchen«, murmelte er.
«Sie ist nicht hier.«
Eine weitere Erinnerung gesellte sich zu den quälenden Bildern hinter seiner Stirn: Du weißt, wo du mich findest. Und deine kleine Freundin auch.
«José …«, murmelte er.»Er hat … er hat sie mitgenommen. «Mit einem Ruck sah er auf und starrte Anita an. Es war schwer, auf ihrem immer noch verschwommenen Gesicht irgendeine Regung abzulesen — aber die Betroffenheit und der Kummer in ihrem Blick waren echt.
«Ich weiß«, flüsterte sie.
«Wo hat er sie hingebracht?«fragte Indiana.
«Das weiß ich nicht«, antwortete Anita.»Und ich weiß auch nicht, warum er es getan hat, Dr. Jones.«
«Und das soll ich Ihnen glauben?«fragte Indiana. Er sah, wie Anita unter seinen Worten leicht zusammenfuhr, und kam sich selbst ungerecht und grausam dabei vor. Aber er wußte einfach nicht mehr, wem er noch glauben konnte und wem nicht.
«Nein«, sagte Anita nach einigen Sekunden.»Natürlich glauben Sie mir nicht — und ich verstehe das sogar. Aber es ist die Wahrheit: Ich weiß nicht, warum er das getan hat.«
«Aber Sie wissen, warum er hinter diesen Anhängern her ist«, vermutete Indiana.
Anita machte eine Bewegung, die eine Mischung aus einem Nicken, einem Kopfschütteln und einem Achselzucken war.»Ich weiß nicht mehr als Sie, Dr. Jones«, sagte sie.»Jedenfalls nicht viel mehr. José hat niemals über diese Dinge mit mir gesprochen.«
«Gestern abend auf der Hazienda klang das etwas anders«, sagte Indiana.
«Ich habe Ihnen alles gesagt, was ich weiß«, beharrte Anita. Sie wich seinem Blick bei diesen Worten aus, aber Indiana war nicht sicher, ob sie es tat, weil sie log oder weil sie sich einfach für das schämte, was ihr Mann getan hatte.
«Ich habe das eine oder andere aufgeschnappt und mir das eine oder andere selbst zusammengereimt«, fuhr sie nach einer langen, schweren Pause fort.»Ich weiß, daß das, was José getan hat, nicht richtig ist, Dr. Jones. Er hat nicht nur Sie belogen, sondern auch mich und seine Freunde. Aber er ist nicht schlecht, glauben Sie mir. Norten und Bentley halten ihn für verrückt, aber das ist er nicht. Er ist vielleicht besessen; fanatisch, besessen von der Idee, sein Volk wieder zu dem zu machen, was es einmal war. Aber nicht verrückt.«
Und plötzlich tat sie Indiana nur noch leid. Trotz allem liebte sie José wohl wirklich, und das machte das, was er getan hatte, zumindest zu einem Teil auch zu ihrer Schuld. Behutsam ergriff ihre Hand und drückte sie leicht.
«Sie brauchen sich keine Vorwürfe zu machen, Anita«, sagte er.»Ich habe nicht vergessen, daß Sie uns geholfen haben. Und ich verspreche Ihnen, daß ich für José tun werde, was ich kann. Immerhin waren wir einmal Freunde.«
Die Worte waren nicht sehr klug gewählt, das begriff er im gleichen Moment, in dem er sie aussprach, denn der Ausdruck von Schmerz in Anitas Blick vertiefte sich. Ihre Finger in seiner Hand schienen merklich kälter zu werden.
«Sind Sie das jetzt nicht mehr?«flüsterte sie.
Indiana deutete ein Achselzucken an.»Ich weiß es nicht«, gestand er.»Vor ein paar Stunden hätten seine Männer mich beinahe umgebracht. Er hat Nortens Hazienda und dieses Schiff überfallen lassen, und er hat Joana entführt. Und ich weiß nicht einmal genau, warum.«
«Er wollte diese Anhänger haben«, antwortete Anita.»Er ist besessen von dem Gedanken, sie zu ihrem Bestimmungsort zu bringen. Er glaubt, er müsse es tun.«
«Und Sie?«fragte Indiana leise.»Glauben Sie das auch?«
Endlose Sekunden vergingen, ehe Anita antwortete:»Ich weiß es nicht«, murmelte sie hilflos.»Ich … glaube, daß das, was José vorhat, falsch ist. Aber er glaubt, richtig zu handeln. Er ist nicht schlecht. «Die letzten Worte klangen fast verzweifelt; wie etwas, das sie immer und immer wiederholte, als wolle sie es sich selbst auf diese Weise einreden.
«Aber er könnte entsetzliches Unheil anrichten«, sagte Indiana ernst.
«Wenn das so ist«, flüsterte Anita,»dann helfen Sie mir, ihn davon abzuhalten. Er ist besessen von den Gedanken, die alten Maya-Götter wieder zu erwecken. Er glaubt, alles könne wieder so werden, wie es war. Aber er tut es nicht seinetwegen. Es sind nicht Macht oder Reichtum, nach denen er strebt, das müssen Sie mir glauben.«
Und so absurd es Indiana beinahe selbst vorkam, nach allem, was geschehen war — er glaubte ihr. Und vielleicht war gerade das das Schlimmste.
Behutsam löste er seine Hand aus der ihren, stand auf und blieb einige Sekunden lang reglos neben dem Bett stehen, bis die Kabine wieder aufgehört hatte, sich um ihn zu drehen.»Ich muß zu Norten und Bentley«, sagte er.»Begleiten Sie mich?«
Anita überlegte einen Moment, schüttelte dann aber den Kopf.»Ich glaube nicht, daß das klug wäre«, sagte sie.