Indiana widersprach nicht. Wahrscheinlich war es tatsächlich besser, wenn sie hierblieb. Weder Norten noch Commander Bent-ley — wären im Moment wahrscheinlich sehr glücklich darüber gewesen, sie zu sehen. Es überraschte Indiana ohnehin ein wenig, daß Anita sich überhaupt in seiner Kabine aufhielt. Nachdem, was ihr Mann getan hatte, hätte es ihn nicht gewundert, wenn Bentley sie kurzerhand hätte verhaften lassen.
In gewissem Sinne hatte er das auch getan. Als Indiana seine Kabine verließ, vertraten ihm zwei bewaffnete und überaus nervös wirkende Matrosen den Weg, die ihn erst passieren ließen, nachdem sie sich davon überzeugt hatten, daß er unbewaffnet und Josés Frau sicher in der Kabine zurückgeblieben war.
Während einer der beiden mit entsichertem Gewehr vor der Tür wachte, begleitete ihn der zweite zu Bentleys Kapitänskajüte.
Hier unten unter Deck hatte der Kampf keine sichtbaren Spuren hinterlassen; oder wenn, so hatte man sie bereits beseitigt. Aber die Bewegungen und Blicke der Männer, denen sie unterwegs begegneten, waren nervös und fahrig, und jeder einzelne war bewaffnet.
Auch vor der Tür der Kapitänskajüte standen zwei bewaffnete Männer. Indianas Begleiter sprach in gedämpften Ton mit einem von ihnen, woraufhin er sich umwandte, anklopfte und für endlose Sekunden hinter der Tür verschwand, ehe er zurückkam und Indiana mit einer knappen Kopfbewegung zu verstehen gab, daß er eintreten dürfe.
In der Kajüte hielt sich außer Commander Bentley auch Professor Norten auf. Während Bentley wie bei ihrem ersten Zusammentreffen mit steinernem Gesicht hinter seinem Schreibtisch saß, lief Norten unruhig in der kleinen Kajüte auf und ab. Er war leichenblaß, und der nicht besonders sorgfältig angelegte Verband an seinem rechten Handgelenk bewies, daß auch er nicht ganz ungeschoren davongekommen war. Als Indiana die Kabine betrat, hielt er in seinem unablässigen Auf und Ab inne und maß ihn mit einem wilden Blick.
«Was ist passiert?«begann Indiana übergangslos.
«Er hat sie«, sagte Norten.
«Ich weiß«, erwiderte Indiana niedergeschlagen.»Er hat es mir gesagt.«
Trotz allem war er enttäuscht. José hatte ihm nur gesagt, daß er Joana entführt hatte, und es war ein winziger, verzweifelter Hoffnungsschimmer gewesen, daß er sie vielleicht nicht gefunden hatte oder daß es Bentleys Männern gelungen sein mochte, sie zu beschützen.
«Er hat es Ihnen gesagt?«wiederholte Norten überrascht, aber auch ein wenig mißtrauisch.
«Er sagte, ich wüßte schon, wo ich ihn finde«, bestätigte Indiana.»Und Joana auch.«
Norten runzelte die Stirn.»Joana? Ich rede nicht von dem Mädchen.«
«Wovon dann?«
«Die Anhänger!«sagte Norten. Mit einer ärgerlichen Geste deutete er auf Bentley.»Dieser Narr hat sie ihm gegeben!«
«Ich hatte keine andere Wahl!«verteidigte sich Bentley. Seine Stimme war leise, nur ein zitterndes Flüstern, und auch sein Gesicht hatte jede Farbe verloren. Aber anders als bei Norten war es nicht rasender Zorn, der ihn hatte erbleichen lassen. Er war noch immer erschüttert; jetzt vielleicht noch mehr als vorhin während des Überfalls.
«Was ist passiert?«fragte Indiana noch einmal und trat auf den Schreibtisch zu.
Bentley wollte antworten, aber Norten kam ihm zuvor.»Einer dieser Wilden hat ihm das Messer an die Kehle gesetzt, und José hat gedroht, ihn umzubringen, wenn er nicht den Safe aufmacht!«sagte er wütend.»Und dieser Feigling hat natürlich sofort gehorcht!«
Indy maß ihn mit einem halb zornigen, halb verächtlichen Blick.»Was hätten Sie denn an seiner Stelle getan? Sich umbringen lassen?«
In Nortens Augen blitzte es wütend auf.»Jedenfalls nicht sofort klein beigegeben und um mein Leben gebettelt!«behauptete er.»Wissen Sie überhaupt, was dieser erbärmliche Feigling damit angerichtet hat?«
Er machte eine herrische Handbewegung, als Bentley etwas sagen wollte, und fuhr mit erhobener Stimme fort:»Die Macht der alten Maya-Götter in der Hand dieses Wahnsinnigen — das ist unvorstellbar! Er könnte … er könnte das Angesicht dieser Welt verändern!«
Das zumindest hielt Indiana für übertrieben. Aber er verstand auch Nortens Erregung — wenngleich ihn auch sein Versuch, alle Schuld auf den Commander abzuwälzen, in Rage brachte.
«Immerhin hat er nicht alle Anhänger bekommen«, sagte er.
Norten schnaubte verächtlich.»Sind Sie sicher?«
«Völlig«, erwiderte Indiana.»In Ihrem Safe waren nur zehn Ketten, nicht wahr?«
«Plus, die, die seine Männer Joana in New Orleans abgenommen haben.«
Indiana antwortete nicht gleich. Er war jetzt weniger denn je davon überzeugt, daß die beiden Mayas in New Orleans wirklich in Josés Auftrag gehandelt hatten. Es hätte überhaupt keinen Sinn ergeben, so etwas zu tun — der Überfall auf ihn selbst wäre einfach nicht zu erklären, denn José hatte schließlich, was er wollte, und der auf Joana überflüssig — schließlich hätte José einfach nur abzuwarten brauchen, bis Indiana und Gregs Tochter freiwillig zu ihm gekommen wären.
Aber er sprach nichts davon aus, sondern sagte nach einer Weile:»Selbst wenn es so ist, fehlt ihm immer noch eine.«
«Vielleicht hat er ihn ja schon«, sagte Norten.»Vielleicht hat er auf eigene Faust danach gesucht, ohne es uns zu sagen, und selbst wenn nicht — er hat elf von zwölf Amuletten. Vielleicht nicht genug, um die Zeremonie korrekt durchzuführen. Aber ganz bestimmt genug, um Schaden anzurichten.«
«Ein Grund mehr, ihn daran zu hindern«, sagte Indiana.
Norten schnaubte.»Und wie?«
«Das weiß ich nicht«, antwortete Indiana.»Aber ich weiß, wie wir es ganz bestimmt nicht schaffen — wenn wir weiter hier herumstehen und uns gegenseitig Vorwürfe machen. Wir müssen José finden und ihn daran hindern, das Zeremoniell durchzuführen. «Er griff nach Nortens Arm, hob ihn hoch und blickte auf die teure Armbanduhr an seinem Gelenk.
«Wieviel Zeit bleibt uns noch?«
«Nicht einmal ganz zwei Tage«, antwortete Norten.
«Zwei Tage!«Indiana erschrak.»So wenig?«
Während Norten nur mit besorgtem Gesichtsausdruck nickte, erwachte Bentley zum ersten Mal aus seiner Lethargie und hob den Blick.»Das ist mehr als genug«, sagte er.»Wir können die Küste von Yucatan bis morgen früh erreichen.«
«Piedras Negras liegt nicht an der Küste«, erinnerte Indiana.»Und der nächste Hafen …«
«Wir werden nicht in einem Hafen einlaufen«, unterbrach ihn Norten.
Indiana blickte ihn und den Commander eine Sekunde lang verständnislos an.»Nicht?«vergewisserte er sich.
Norten lächelte ohne die geringste Spur von Humor.»Ich weiß, daß Sie sich nicht für die große Politik interessieren, Dr. Jones«, sagte er abfällig,»Aber selbst Ihnen dürfte klar sein, was geschehen würde, wenn ein amerikanischer Schlachtkreuzer ohne Erlaubnis in einen mexikanischen Hafen einläuft.«
«Ohne …?«Und erst in diesem Moment begriff Indiana. Mit einem Ruck fuhr er herum und starrte Bentley an.
«Ihre Vorgesetzten wissen nichts von dieser Fahrt?«fragte er. Er machte eine Handbewegung, die das ganze Schiff einschloß.»Das alles hier ist eine reine Privatsache, nicht wahr?«
Bentley schwieg.
«Sie machen das alles hier, ohne daß irgend jemand in Washington davon weiß«, fuhr Indiana fort. Ein Gefühl ungläubigen Schreckens hatte ihn ergriffen. In einem Punkt hatte Norten recht: Selbst er wußte, daß die Beziehung zwischen Mexiko und den Vereinigten Staaten von Amerika alles andere als gut war.»Sie müssen völlig verrückt sein!«sagte er noch einmal.»Ist Ihnen eigentlich klar, was Sie hätten anrichten können?«
«Weniger, als Sie zu unterstellen scheinen, Dr. Jones«, unterbrach ihn Norten.»Wir hatten nicht vor, die Drei-Meilen-Zone zu verletzen, wenn es das ist, wovor Sie Angst haben.«
Indiana drehte sich mit einem Ruck zu ihm herum.»Ich verstehe«, sagte er spöttisch.»Sie hatten vor, an Land zu schwimmen.«