«Sie hat Sie wirklich gern, Norten«, unterbrach ihn Indiana und richtete sich auf die Ellbogen auf, um Norten ins Gesicht zu sehen.»Sie wissen das. Für das Mädchen sind Sie so etwas wie ein zweiter Vater. Ist Ihnen das klar?«
Norten wirkte ein bißchen betroffen. Aber er antwortete nicht, sondern sah Indiana nur fragend an.
«Wenn Sie Ihnen wirklich etwas bedeutet«, fuhr Indiana fort,»dann verstehe ich nicht, warum Sie ihr nicht helfen wollen. Sie ist in Gefahr, solange sie sich in der Gewalt dieses Verrückten befindet. In Lebensgefahr.«
«Er wird ihr nichts tun«, antwortete Norten. Aber es klang nicht sehr überzeugt.»Nicht, solange er glaubt, sie als Druckmittel gegen Sie benutzen zu können, Dr. Jones.«
«So wie Sie?«hakte Indiana nach.
Diesmal war der betroffene Ausdruck auf Nortens Gesicht sehr viel stärker. Drei, vier Sekunden lang blickte er Indiana mit einer Mischung aus Bestürzung und Zorn an, seine Lippen wurden zu einem dünnen, blutleeren Strich, und er bewegte die Hände, als wolle er sie zu Fäusten ballen. Aber dann fuhr er wortlos auf dem Absatz herum, stürmte aus dem winzigen Zimmer und warf die Tür hinter sich ins Schloß.
Indiana ließ sich enttäuscht zurücksinken. Im Grunde hätte ihm klar sein müssen, wie wenig Sinn es hatte, auf diese Weise mit Norten reden zu wollen. Der Professor war besessen; so verrannt in seine Idee, daß er weder auf sich noch auf andere Rücksicht nehmen würde. Aber Indiana war der warme, fast väterliche Blick keineswegs entgangen, mit dem Norten Joana auf seiner Hazienda auf Kuba in die Arme geschlossen hatte. Er hatte es wenigstens versuchen müssen.
Eine gute halbe Stunde blieb er mit offenen Augen auf dem Bett liegen und starrte die schmutzige Decke über sich an. Er sah fünf- oder sechsmal auf die Uhr in dieser Zeit, und jedesmal kam es ihm so vor, als hätten sich die Zeiger nicht einmal weiterbewegt. Und bis zum Sonnenuntergang waren noch mindestens sieben oder acht Stunden — Norten hatte schließlich keinen Zweifel daran gelassen, daß sie spätestens bei Dunkelwerden aufbrechen würden, um den Maya-Tempel zu suchen; ob José und Joa-na bis dahin eingetroffen waren oder nicht.
Schließlich hielt er die Untätigkeit nicht mehr aus, stand auf und ging zur Tür. Vorsichtig drückte er die Klinke herunter, öffnete sie einen Spaltbreit und lugte hindurch.
Das einzige, was er sah, war der durchgeschwitzte Rücken eines khakifarbenen Hemdes, das sich über einem Paar mit gewaltigen Muskeln bepackter Schultern spannte. Indiana überlegte eine Sekunde lang, es einfach zu riskieren und den Mann niederzuschlagen; mit Norten und Bentley fertig zu werden, traute er sich ohne weiteres zu. Und ehe der zweite Mann von der Straße hereingelaufen war, konnte er das Gebäude vielleicht schon verlassen haben.
Aber als hätte er seine Gedanken gelesen, drehte sich der Soldat vor der Tür in diesem Moment herum und blickte ihn an.»Haben Sie irgendwelche Wünsche, Dr. Jones?«fragte er.
«Nein«, antwortete Indiana.»Ich wollte nur nachsehen ob …«
«Ob?«
«Nichts«, sagte Indiana.»Es ist schon gut. «Er schloß die Tür wieder, ging zum Fenster und blickte auf die Straße hinab.
Das Bild hatte sich nicht geändert, als wäre die Zeit tatsächlich stehengeblieben. Der Ort lag noch immer wie ausgestorben unter ihm, und das einzige menschliche Wesen, das er sah, war noch immer der Mann, der auf der anderen Straßenseite an einer Wand lehnte und sein Zimmer im Blick behielt. Als er Indiana am Fenster entdeckte, hob er die Hand und winkte ihm spöttisch zu.
Indiana schenkte ihm einen finsteren Blick und wollte sich schon wieder umwenden, als er doch noch eine Bewegung bemerkte: am nördlichen Ende der Straße, fast schon außerhalb seines Blickfeldes, hatte sich eine Tür geöffnet, und eine weißgekleidete Frau mit dunklem Haar trat aus dem Haus.
Und es war nicht irgendeine Frau — es war Anita.
Indiana riß verblüfft die Augen auf. Was er sah, war vollkommen ausgeschlossen! Er hatte mit eigenen Augen gesehen, wie Bentley Josés Frau in ihre Kabine eingeschlossen hatte. Und selbst, wenn es ihr irgendwie gelungen sein sollte, daraus zu entkommen — es war einfach unmöglich, daß sie hier war! Das Schiff befand sich gute dreißig Seemeilen von der Küste von Yu-catan, und der Weg von dort bis hierher betrug noch einmal gute zweihundert Meilen! Selbst mit dem Flugzeug hatten sie fast vier Stunden gebraucht, um hierherzukommen.
Aber unmöglich oder nicht — sie war es. Es gab überhaupt keinen Zweifel. Es war ihr Gesicht, ihr Haar, ihre Art, sich zu bewegen.
Indiana beobachtete fassungslos, wie sie weiter auf die Straße hinaustrat, einen Moment stehenblieb und sich aufmerksam nach rechts und links umsah; in der Haltung eines Menschen, der etwas sucht — oder auf jemand wartet. Und es gehörte nicht viel Phantasie dazu, sich auszurechnen, auf wen sie wartete.
Indiana blickte noch einmal zu dem Soldaten auf der anderen Straßenseite hinüber. Auch er hatte Anita bemerkt und sah in ihre Richtung; aber er stand weiter völlig entspannt und gegen die Hausmauer gelehnt da. Ganz offensichtlich hatte er sie nicht erkannt, sondern blickte sie einfach nur an, weil sie eine attraktive Frau war.
Indiana warf alle Bedenken über Bord, eilte noch einmal zum Bett zurück, um seinen Hut und die zusammengerollte Peitsche zu holen, die Norten ihm als einzige Waffe mitzunehmen gestattet hatte, und schwang sich dann mit einer einzigen, entschlossenen Bewegung aus dem Fenster. Seine Finger fanden an dem mürben Holz des Rahmens kaum Halt, aber seine tastenden Füße trafen auf Widerstand. Eine halbe Sekunde lang hing er so fast erstarrt an der Wand, dann löste er mit klopfenden Herzen die rechte Hand von ihrem Halt und suchte nach irgend etwas, woran er sich festhalten konnte, um an der Mauer hinabzuklettern.
«Heda!«
Indiana widerstand der Versuchung, sich herumzudrehen und zu dem Mann hinüberzublicken, der seinen Fluchtversuch offensichtlich bemerkt hatte. Mit zusammengebissenen Zähnen kletterte er weiter an der Mauer hinab.
«Dr. Jones! Was soll der Unsinn?! Wollen Sie sich den Hals brechen?«
Schwere, schnelle Schritte näherten sich ihm, und Indiana sah nun doch über die Schulter zurück.
Der Mann hatte seinen Posten auf der anderen Straßenseite verlassen und kam mit weit ausgreifenden Schritten und sehr wütendem Gesichtsausdruck auf ihn zu. Gleichzeitig hörte er, wie im Zimmer über ihm die Tür aufflog und knallend gegen die Wand prallte, und eine halbe Sekunde später erschien ein zweites, ebenso aufgebrachtes Gesicht in der Fensteröffnung über ihm. Eine Hand streckte sich nach ihm aus und versuchte ihn zu packen. Indiana drehte hastig den Kopf zur Seite, so daß die ausgestreckten Finger ihm nur den Hut vom Kopf fegten, aber die plötzliche Bewegung war zuviel. Seine Finger- und Zehenspitzen, die sich in winzige Vertiefungen und Risse des Mauerwerks gekrallt hatten, verloren ihren Halt, und er spürte, wie er zu stürzen begann.
Indiana tat das einzige, was ihm noch blieb — er versuchte nicht, sich weiter festzuklammern, sondern stieß sich im Gegenteil mit aller Kraft von der Wand ab und drehte sich gleichzeitig herum.
Der Mann unter ihm war so verblüfft, daß er nicht einmal einen Schreckenslaut hervorstieß, als Indiana aus gut vier Metern Höhe auf ihn herunterstürzte und ihn mit sich zu Boden riß.
Der Aufprall trieb Indiana die Luft aus den Lungen und ließ bunte Sterne vor seinen Augen tanzen, aber der Soldat verlor auf der Stelle das Bewußtsein.
«Stehenbleiben!«brüllte der Mann über ihm im Fenster.»Dr. Jones, bleiben Sie stehen, oder ich schieße!«
Was Indiana natürlich nicht tat.
Ganz im Gegenteil sprang er hastig hoch, machte einen Schritt in Anitas Richtung, die bei dem plötzlichen Lärm stehengeblieben war, und lief dann noch einmal zwei Schritte zurück, um seinen Hut aufzuheben.
Die Bewegung rettete ihm wahrscheinlich das Leben, denn die Worte des Soldaten waren keine leere Drohung gewesen. Über ihm krachte ein Schuß, und da, wo er gestanden hätte, hätte er sich nicht noch einmal herumgedreht, riß eine winzige Explosion den Straßenstaub auf.