Indiana prallte entsetzt zurück, preßte sich eine halbe Sekunde lang gegen die Wand unter dem Fenster und warf sich instinktiv zur Seite, als er eine Bewegung über sich registrierte.
Die zweite Kugel verfehlte ihn nur um Millimeter, riß eine qualmende Furche in den Putz neben seiner Schulter und heulte als Querschläger davon.
Als sich der Soldat fluchend vorbeugte, um zum dritten Mal auf ihn zu zielen, schlug Indiana mit der Peitsche zu.
Die Schnur war nicht einmal lang genug, um das Fenster zu erreichen, aber die vermeintliche Gefahr erschreckte den Mann so sehr, daß er in seiner weit vorgebeugten Haltung im Fenster die Balance verlor und mit einem Schrei nach vorne kippte.
Indiana wartete nicht einmal, bis er zu Boden gestürzt war, sondern rannte mit weit ausgreifenden Schritten hinter Josés Frau her.
«Anita!«schrie er.»Bleiben Sie stehen!«
Doch statt auf ihn zu warten, fuhr Anita mit einer erschrockenen Bewegung herum und lief die Straße hinab. Ihr enges Kleid und die hohen Schuhe, die sie trug, behinderten sie, so daß sie nicht sehr schnell laufen konnte. Aber sie hatte einen gehörigen Vorsprung, und ehe Indiana diesen auch nur zur Hälfte hatte wettmachen können, wandte sie sich nach links und verschwand in einer schmalen Gasse zwischen zwei Häusern.
Indiana fluchte ungehemmt, rannte noch schneller und warf im Laufen Blicke über die Schulter zurück. Einer der beiden Soldaten erhob sich bereits wieder, und genau in diesem Moment flog auch die Tür der Cantina auf, und Norten, Bentley und der Offizier der SARATOGA stürmten ins Freie.
Indiana verdoppelte seine Anstrengungen, Josés Frau einzuholen. Keuchend stürmte er in die Gasse, in der sie untergetaucht war, gerade noch rechtzeitig, um einen Zipfel ihres weißen Kleides in einer Tür verschwinden zu sehen. Mit weit ausgreifenden Schritten setzte Indiana ihr nach, sprengte die Tür kurzerhand mit der Schulter auf und fand sich unversehens in einem dunklen, von angenehmer Kühle erfüllten Hausflur wieder. Ein halbes Dutzend Türen zweigte von diesem Korridor ab, und zur Linken führte eine steile Treppe mit ausgetretenen Stufen in den oberen Teil des Gebäudes.
Indiana verschwendete eine Sekunde damit, mit geschlossenen Augen stehenzubleiben und zu lauschen, aber er hörte nichts. Das Haus schien genauso ausgestorben zu sein wie die Straße und die gesamte Stadt.
Seine Gedanken rasten. Norten und die anderen waren bereits auf dem Weg hierher. Er hatte einfach keine Zeit, eine Tür nach der anderen aufzureißen und die dahinterliegenden Räume zu durchsuchen; ganz davon abgesehen, daß deren Bewohner mit Sicherheit nicht damit einverstanden wären. Einer Panik nahe, versuchte er sich in die Lage eines Menschen zu versetzen, der blindlings hier hereingestürzt kam. Wohin würde er sich wenden?
Sein Blick blieb an der Treppe hängen. Er hatte keine Ahnung, wohin sie führte — aber die hatte Anita wahrscheinlich auch nicht gehabt. Kurz entschlossen wandte er sich nach links und lief, jedesmal drei oder vier Stufen auf einmal mit gewaltigen Sätzen nehmend, nach oben.
Als er den ersten Absatz erreicht hatte, flog die Tür unter ihm mit einem gewaltigen Krachen auf, und Norten und die anderen stürmten herein. Indiana konnte ihre aufgeregten Stimmen hören, und einen Augenblick später ein weiteres Krachen und Poltern, als sie unverzüglich damit begannen, die Türen aufzureißen. Zornige Stimmen erklangen, und fast unmittelbar darauf das helle Klatschen eines Schlages, gefolgt vom dumpfen Aufprall eines Körpers. Offensichtlich hielten sich Bentleys Männer nicht damit auf, Fragen zu stellen.
Indiana sah sich gehetzt um. Sie würden nur Augenblicke brauchen, um die unteren Räume zu durchsuchen und Anita entweder aufzuspüren — oder hier heraufzukommen, um ihre Suche hier oben fortzusetzen. Sein Blick tastete über die geschlossenen Türen, von denen es auch hier oben ein gutes halbes Dutzend gab.
Beinahe wahllos entschied er sich für die nächstliegende, ging hin und drückte die Klinke herunter.
Die Tür rührte sich nicht. Sie war verschlossen. Das Holz machte zwar nicht den Eindruck, als würde es einem ernstgemeinten Versuch, es aufzubrechen, länger als ein paar Sekunden widerstehen. Aber der Lärm, den er dabei machen würde, mußte unten gehört werden.
Indiana wandte sich der nächsten Tür zu und fand auch sie verschlossen. Plötzlich hörte er ein Geräusch am Ende des Korridors.
Die letzte Tür auf dem Gang hatte sich einen Spaltbreit geöffnet, und ein Schimmern von weißem Stoff leuchtete im Halbdunkel dahinter. Ein Paar dunkler, schreckgeweiteter Augen blickte zu Indiana hinaus.»Dr. Jones! Hierher!«
Anitas Stimme war nur ein gehetztes Flüstern, und trotzdem bildete sich Indiana für eine Sekunde lang ein, es müßte überall im Haus deutlich zu hören sein. Er warf noch einen sichernden Blick zur Treppe zurück und huschte dann zu ihr, so schnell und so leise er konnte.
Anita öffnete die Tür gerade weit genug, daß er hindurchschlüpfen konnte, drückte sie hastig hinter ihm wieder zu und legte einen Riegel vor, der so aussah, als könnte ihn selbst ein fünfjähriges Kind aufbrechen.
Indiana drehte sich verwirrt zu ihr herum und wollte eine Frage stellen, aber Anita winkte hastig ab und legte den Zeigefinger auf die Lippen.»Nicht jetzt!«flüsterte sie.»Still!«
Indiana gehorchte. Während Anita an der Tür stehenblieb und das Ohr gegen das Holz preßte, um zu lauschen, trat er einen Schritt zurück und sah sich im Zimmer um. Sie waren nicht allein. An einem dreibeinigen Tisch unter dem einzigen Fenster saßen ein vielleicht dreißigjähriger Mann und eine dunkelhaarige Frau im gleichen Alter, die ein schmuddeliges Kind auf den Knien hielt. Keiner von ihnen gab auch nur einen Laut von sich, aber alle drei blickten Indiana und Anita mit einer Mischung aus Verwirrung und tiefem Schrecken an, die er im ersten Moment nicht verstand.
Dann sah er, daß sie gar nicht sie ansahen — ihr Blick war auf einen Punkt irgendwo zwischen Anita und ihm fixiert, auf eine Stelle mitten im Zimmer, wo absolut nichts war, und als er sich bewegte, reagierte keiner der drei. Es war, als wären sie in einem Moment zeitlosen Schreckens erstarrt und nähmen gar nicht mehr wahr, was rings um sie vorging.
Verblüfft riß sich Indiana von dem Anblick los und wandte sich wieder Anita zu, aber sie fuchtelte erneut mit der Hand und bedeutete ihm, still zu sein.
Draußen auf dem Gang polterten jetzt Schritte, und Indiana konnte hören, wie die Türen eine nach der anderen geöffnet — und zum Teil auch aufgebrochen — wurden. Noch ein paar Sekunden, dachte er, und sie sind hier.
Er sah sich nach etwas um, was er als Waffe gebrauchen konnte. Das Zimmer war winzig und diente zugleich als Wohn- und Schlafraum wie als Küche. Auf dem Herd stand eine schwere gußeiserne Pfanne; vielleicht nicht unbedingt eine elegante Waffe, aber eine sehr wirkungsvolle.
Indiana ging hin, nahm sie und trat neben Anita auf die andere Seite der Tür.
Ein flüchtiges Lächeln stahl sich in den Blick der dunkelhaarigen Mexikanerin, als sie sah, was er in den Händen hielt. Sie deutete ein Kopfschütteln an, legte abermals den Zeigefinger auf die Lippen und signalisierte ihm mit Blicken, ein Stück zur Seite zu treten, als sich Schritte der Tür näherten.
Die Klinke wurde heruntergedrückt, und jemand rüttelte heftig an der Tür. Der dünne Riegel ächzte, als wolle er jeden Augenblick zerbrechen. Anita streckte rasch die Hand aus und schob ihn zurück, und die Tür wurde mit einem Ruck halb aufgerissen; das verschwollene Gesicht des Soldaten, den Indiana zu Boden geschlagen hatte, erschien in der Öffnung und blickte herein.
Indiana holte mit der Bratpfanne aus und spannte alle Muskeln zu einem gewaltigen Schlag, um die Symmetrie dieses Gesichtes durch einen Treffer auf die andere Seite wiederherzustellen, aber Anita hielt ihn mit einer hastigen Handbewegung zurück und sah dem Soldaten ins Gesicht.