«Sie werden Sie sich nehmen müssen«, sagte er grob.»Die Kurzfassung. Nur Tatsachen, keine Hintergründe. Ich habe genug Phantasie, mir den Rest zu denken.«
Anita blickte ihn sekundenlang fast erschrocken an, aber was sie in seinem Gesicht las, das schien sie davon zu überzeugen, daß seine Worte ernst gemeint waren. Einen Moment lang zögerte sie noch, dann seufzte sie tief, nickte ergeben — und sog erschrocken die Luft ein.
Es dauerte einen Moment, bis Indiana begriff, daß das Entsetzen in ihren Augen nicht ihm galt, sondern etwas hinter ihm.
Er fuhr herum — und prallte ebenso erschrocken zurück wie Anita.
Hinter ihnen war eine Gestalt erschienen. Aber es war weder Norten noch einer seiner Männer. Es war ein riesiger, weit über zwei Meter großer Mann mit sonnengebräunter Haut, einem breiten, scharfgeschnittenen Gesicht, leicht fliehender Stirn und einer Hakennase, die aristokratisch gewirkt hätte, wäre sie nicht dick angeschwollen und blau gefärbt gewesen.
Indiana wußte, woher das kam. Es war erst ein paar Tage her, daß er diese Nase höchstpersönlich gebrochen hatte. Hinter ihnen stand der riesige Maya, der im Hafen von New Orleans versucht hatte, Joana zu entführen.
Dem tückischen Glitzern in den Augen des Maya nach zu schließen, erinnerte sich dieser ebenso deutlich wie Indiana an ihre letzte Begegnung. Er lächelte, aber das erinnerte an das Grinsen eines ausgehungerten Wolfes, der seine Beute endlich in die Enge getrieben hat.
Indiana machte einen erschrockenen Schritt zurück und stellte sich schützend vor Anita, und das Grinsen des Mayakriegers wurde noch breiter. Langsam hob er die gewaltigen Hände und spreizte die Finger, rührte sich aber noch nicht von der Stelle.
Indiana hob seine Peitsche. Der Indio lachte leise, schüttelte den Kopf und kam einen Schritt näher.
Indiana war nicht einmal überrascht, als er hinter sich ein Geräusch hörte und auch auf der anderen Seite der Gasse einen braungebrannten Giganten erblickte, der wie aus dem Nichts dort aufgetaucht war.
«Tun Sie etwas!«flüsterte er.»Um Gottes willen, unternehmen Sie etwas, Anita.«
«Aber was denn?«fragte Anita kläglich.
Indianas Blick wanderte zwischen den beiden Riesen hin und her. Sie rührten sich nicht, aber allein die stumme Art, in der sie dastanden und sie anstarrten, war Drohung genug. Indiana wußte, daß er diesmal nicht mit ein paar blauen Flecken und Kopfschmerzen davonkommen würde. Das Glitzern in den Augen des Riesen mit der gebrochenen Nase war pure Mordlust.
«Dasselbe, was Sie mit Nortens Mann gemacht haben«, flüsterte er.»Hypnotisieren Sie ihn, oder was immer es war.«
Anita schüttelte abgehackt den Kopf.»Das geht bei ihnen nicht«, sagte sie.
Einer der beiden machte einen Schritt. In seiner Hand lag plötzlich ein Messer, dessen Klinge in seiner gewaltigen Pranke winzig wirkte, es aber ganz und gar nicht war.
Indianas Gedanken überschlugen sich. Er wußte, daß er gegen diese beiden Titanen nicht die Spur einer Chance hatte. Die Peitsche nutzte ihm in der engen Gasse herzlich wenig, und selbst wenn es ihm gelingen sollte, einen der beiden niederzuschlagen, würde der andere die Gelegenheit nutzen, über ihn herzufallen, und ihn mit einer einzigen Bewegung umbringen.
«Tun Sie etwas!«keuchte er, schon beinahe hysterisch.»Sagen Sie einen Zauberspruch oder irgend etwas!«
Anita blickte ihn irritiert an, schwieg aber.
Der Indio mit dem Messer kam näher und stand nur noch zwei Schritte vor ihm. Lächelnd schwenkte er die Klinge von rechts nach links, machte einen spielerischen, nicht ernst gemeinten Ausfall nach Indianas Gesicht und lachte böse, als der erschrocken zurückprallte und gegen die Wand stieß.
Hinter ihm bewegte sich etwas. Eine dritte Gestalt erschien in der Gasse, längst nicht so groß und breitschultrig wie der Indio und aus irgendeinem Grunde nicht richtig zu erkennen. Es kam Indiana vor, als stünde nur ein Schatten hinter dem riesenhaften Krieger. Aber irgend etwas an diesem Schatten kannte er.
Der Maya schien die Verwirrung in seinem Blick zu registrieren, denn er starrte ihn eine Sekunde lang mißtrauisch an, dann wechselte er das Messer von der Linken in die Rechte, machte vorsichtshalber einen Schritt zurück und drehte sich herum.
Obwohl Indiana ihn nicht einmal ansah, registrierte er, wie der Maya entsetzt mitten in der Bewegung erstarrte.
Hinter dem Riesen stand ein alter Mann. Und es war nicht irgendein alter Mann — es war der Alte, den Indiana schon zweimal gesehen hatte: vor einer Stunde, als er auf der Straße vor der Can-tina stand und zu ihnen hereinblickte, und vor drei Jahren, als er sich Greg und ihm in den Weg gestellt hatte.
Der alte Mann sagte kein Wort. Er bewegte sich auch nicht, sondern stand nur da und blickte die beiden Mayas an. Der Ausdruck auf seinem Gesicht war nicht einmal unfreundlich. Ja, er lächelte sogar — aber er tat es auf die Art eines Vaters, der seine Kinder dabei beobachtet, wie sie etwas Falsches tun, von dem sie allerdings nicht wissen, daß sie es nicht dürfen. Und trotz dieses milden, verzeihenden Lächelns lag in seinem Blick solch eine Stärke und ein Wissen, daß Indiana innerlich erschauerte.
Die beiden Mayas erschauerten nicht nur innerlich.
Der mit dem Messer taumelte Schritt für Schritt zurück, bis er an ihnen vorübergewankt war und neben seinem Kameraden stand. Auf den Gesichtern der beiden breitete sich ein ungläubiges Entsetzen aus; eine Angst, wie Indiana sie selten auf dem Gesicht eines Menschen gesehen hatte.
Sekundenlang standen sie einfach da, reglos, scheinbar gelähmt durch den Anblick des alten Mannes, dann hob der Greis die Hand und machte eine knappe, fast nur angedeutete Bewegung — und die beiden Riesen fuhren auf der Stelle herum und rannten davon, als wäre der Teufel persönlich hinter ihnen her.
Indiana blickte ihnen verblüfft nach, ehe er sich wieder umwandte und den Alten ansah. Auch dieser Mann war kein Mexikaner, wie er bisher angenommen hatte. Jetzt, als Indiana ihm ganz nahe war und sein Gesicht deutlich erkennen konnte, sah er die gleichen Züge darin wie auf denen der beiden Mayas. Das gleiche scharf geschnittene Gesicht, das gleiche markante Kinn, die gleiche, leicht fliehende Stirn, was diesem Antlitz ein für die Augen eines Europäers täuschend dümmliches Aussehen verlieh. Und diese Augen …
Indiana hatte niemals solche Augen gesehen. Es waren die Augen eines alten, eines uralten Mannes. Sie waren trübe von den Jahrzehnten, wenn nicht Jahrhunderten, die sie gesehen hatten, und zugleich las Indiana ein Wissen und eine Überlegenheit darin, die ihn tief berührte.
«Wer … wer sind Sie?«flüsterte er.
Es war ihm nicht möglich, laut zu sprechen. Die bloße Nähe dieses alten Mannes schien etwas in ihm zu Eis erstarren zu lassen. Es war das gleiche Gefühl, das er auf Nortens Hazienda gehabt hatte, als ihn die Feuerschlange berührte: das Gefühl, sich in der Nähe von etwas Uraltem, unvorstellbaren Mächtigem zu befinden. Doch was hier fehlte, das war der brodelnde, bodenlose Haß, die sinnlose Zerstörungswut, die dem Flammenkörper der Dämonenschlange innegewohnt hatte. Statt dessen spürte er etwas wie … Weisheit. Die Abgeklärtheit eines Wesens, das Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende gelebt hatte und wußte, wie nichtig alles war, was Menschen taten.
«Wer sind Sie?«fragte er noch einmal.
Der alte Mann lächelte sanft, trat an ihm vorbei und wandte sich an Anita. Er sagte ein Wort in einer fremden, Indiana völlig unverständlichen Sprache, und sie antwortete auf die gleiche Weise, deutete auf ihn und dann auf sich und machte dann eine Bewegung nach Süden. Der Alte nickte, und in das Lächeln auf seinen greisen Zügen mischte sich eine Spur von Trauer, als er sich an Indiana wandte.
Wieder verging eine Sekunde, in der er ihn einfach nur anblickte, und wieder erschauerte Indiana unter diesem Blick wie unter der Berührung einer eiskalten unsichtbaren Hand.»Ich wußte, daß wir uns wiedersehen«, sagte er schließlich.