Er sprach leise, und seine Stimme hatte einen sonderbar vollen, wohltuenden Klang; es war nicht die Stimme eines alten Mannes.
«Es ist … lange her«, antwortete Indiana stockend. Er kam sich selbst albern vor bei diesen Worten, aber es war das einzige, was ihm überhaupt einfiel; die einzigen Worte, die er überhaupt zustande brachte.
Der alte Mann maß ihn mit einem weiteren sehr langen und — zumindest versuchte Indiana sich das einzureden — durchaus wohlwollenden Blick, dann antwortete er:»Du hättest nicht gehen sollen, damals. Nun mußt du gehen.«
«Ich weiß«, flüsterte Indiana. Er fühlte sich wie betäubt. Sein Kopf war wie leergefegt. Er stellte keine der hundert Fragen, die er diesem alten Mann hatte stellen wollen, sagte nichts von den tausend Dingen, die er hatte sagen wollen; er stand einfach nur da, blickte den uralten Maya an und erschauerte vor der Aura unvorstellbarer Macht, die den Mann mit dem Greisengesicht umgab.
«Wer … wer sind Sie?«fragte er mühsam.
Wieder lächelte der alte Mann.»Ich glaube, das weißt du«, sagte er.
«Nein«, antwortete Indiana.»Ich …«
«Jetzt ist nicht die Zeit, zu reden«, unterbrach ihn der Alte sanft, aber in einem Tonfall, der keinerlei Widerspruch duldete.»Du mußt gehen und sie aufhalten. Das Mädchen wird dir den Weg weisen.«
«Ich … ich verstehe nicht ganz …«, stammelte Indiana, aber wieder unterbrach ihn der alte Mann:
«Es ist nicht mehr viel Zeit. Geh und tu, was du tun mußt. Tu es, bevor der Mond hoch am Himmel steht.«
«Aber ich …«Indiana verstummte verwirrt mitten im Satz, als sich der alte Mann einfach herumdrehte und mit langsamen, gemessenen Schritten und mit nach vorn gebeugten Schultern ging. Alles in ihm schrie danach, ihm nachzulaufen, ihn einfach an der Schulter zu ergreifen und zurückzureißen und ihm all die Fragen zu stellen, die ihm auf der Zunge brannten. Aber er konnte sich nicht rühren. Er war noch immer wie erstarrt.
Erst als der Alte das Ende der Gasse erreicht hatte und verschwunden war, wich die Lähmung aus seinen Gliedern. Zutiefst verstört wandte sich Indiana wieder zu Anita um und blickte sie aus großen Augen an.»Wer war das?«flüsterte er.
«Das kann ich Ihnen nicht sagen, Indiana«, antwortete Anita.»Noch nicht. Er hat recht — wir haben nicht mehr sehr viel Zeit. Wir müssen zum Tempel und José aufhalten, ehe ein schreckliches Unglück geschieht.«
«Aber ich weiß ja nicht einmal genau, wo er ist«, protestierte Indiana.
«Ich werde Ihnen den Weg zeigen«, antwortete Anita.
«Aber das … das sind fast fünfzig Meilen!«sagte Indiana.
«Quer durch den Dschungel und ohne Fahrzeug! Sie können sicher sein, daß Bentleys Männer die beiden Lastwagen bewachen wie ihre Augäpfel!«
«Sie sind mit dem Flugzeug gekommen«, erinnerte ihn Anita.»Trauen Sie sich zu, es zu fliegen?«
Indiana schüttelte impulsiv den Kopf.»Fliegen vielleicht, aber nicht starten und schon gar nicht landen.«
«Wir müssen es versuchen«, beharrte Anita.»Ohne ein Transportmittel brauchen wir zwei Tage, um den Tempel zu erreichen. Und die haben wir nicht.«
«Aber das ist Selbstmord«, protestierte Indiana.
Anita hörte ihm gar nicht mehr zu. Wie der Alte zuvor drehte sie sich einfach um und ging mit gemessenen Schritten die Gasse hinab. Und nach wenigen weiteren Sekunden folgte Indiana ihr dann doch.
Der Fluß verlief drei oder vier Meilen südöstlich der Stadt, und Bentleys Männer hatten das kleine Wasserfahrzeug so geschickt mit Zweigen und Laub getarnt, daß selbst Indiana fast eine halbe Stunde brauchte, ehe er es wiederfand. Eine weitere halbe Stunde verging, bis sie die Maschine so weit von ihrer Tarnung befreit hatten, daß Indiana einen Start riskieren zu können glaubte.
Der einzige Schönheitsfehler an dieser Einschätzung war, daß er nicht wußte, wie er überhaupt die Maschine starten sollte.
Sie hatten die Stadt in einem weiten Bogen umgangen, um nicht Norten oder einem seiner Männer über den Weg zu laufen. Daher hatten sie aber auch fast zwei Stunden gebraucht, um den Fluß und das Versteck der Cessna zu erreichen, und Indiana hatte während dieser Zeit mindestens zwanzigmal versucht, Josés Frau davon zu überzeugen, daß es purer Selbstmord war, wenn er versuchte, das Flugzeug in die Luft zu bringen.
Aber sie hatte sich nicht beirren lassen, sondern nur beharrlich erklärt, daß er es schon irgendwie schaffen würde. Indiana hätte viel darum gegeben, hätte er auch nur ein Zehntel ihres Optimismus verspürt. Ihm selbst brach schon bei dem bloßen Gedanken daran der kalte Schweiß aus.
Aber etwas sagte ihm, daß alles, was geschehen würde, wenn sie nicht rechtzeitig den Tempel erreichen und José aufhalten konnten, sehr viel schlimmer sein würde als ein mißglückter Startversuch.
Trotzdem zitterten seine Hände, als er neben Anita in die Kabine der Cessna kletterte und die Finger um den Steuerknüppel legte. Vor ihm lag eine geradezu chaotische Ansammlung von Zeigern und Meßinstrumenten, von denen er mit viel Mühe und Not gerade die Tankuhr lesen konnte; sie stand im unteren Drittel, mehr als genug Treibstoff also für die fünfzig Meilen zum Vulkan hin und auch wieder zurück.
«Machen Sie sich Sorgen wegen des Benzins?«fragte Anita, die seinen langen Blick auf die Tankuhr bemerkte und offensichtlich falsch gedeutet hatte.
Indiana schüttelte den Kopf.»Nein. Es sind ja nur fünfzig Meilen. Sorgen mache ich mir um die halbe Meile dort hinauf. «Er deutete mit der Hand in den Himmel, und Anita lächelte flüchtig.
«Sie werden es schon schaffen, Dr. Jones«, lächelte sie zuversichtlich.
Indiana verdrehte die Augen, wandte sich wieder den Kontrollen des Flugzeuges zu und kramte verzweifelt in seiner Erinnerung. Er hatte zugesehen, als Joana die Maschine im Hafen von New Orleans gestartet hatte — aber natürlich hatte er nicht wirklich darauf geachtet, was sie tat. Er war viel zu sehr damit beschäftigt gewesen, Angst zu haben. Und außerdem — daß er selbst einmal dieses Flugzeug starten sollte, war so ungefähr das letzte gewesen, woran er gedacht hatte.
«Ich schaffe das nicht«, murmelte er.
«Das sollten Sie aber, Dr. Jones«, antwortete Anita ruhig.»Und sei es nur ihretwegen.«
Indiana sah sie einen Moment lang irritiert an, bis er überhaupt begriff, was sie meinte. Sein Blick wandte sich dorthin, wohin ihre ausgestreckte Hand wies.
Weniger als fünfzig Meter von ihnen entfernt waren zwei Gestalten aus dem Unterholz getreten, das den Fluß säumte. Norten und einer von Bentleys Soldaten!
Indiana sah, wie der Professor erschrocken zusammenfuhr und dann mit dem ausgestreckten Arm auf das Flugzeug deutete, schluckte selbst einen Fluch herunter und streckte die Hand nach dem aus, was er für den Startknopf hielt.
Wahrscheinlich war es pures Glück, aber er erwischte auf Anhieb den richtigen Schalter, und das Glück blieb ihnen auch weiter treu: Der Motor der Cessna drehte nur einmal kurz durch und sprang dann an; ein tiefes, beunruhigendes Zittern lief durch den Rumpf des Wasserflugzeugs, und Indianas Herz machte einen erschrockenen Hüpfer, als sich die Maschine auf der Stelle zu drehen begann und gleichzeitig auf den Fluß hinausglitt. Gleichzeitig bemerkte er aus den Augenwinkeln, daß Norten und sein Begleiter zu rennen begannen. Und der Abstand zwischen ihnen und dem Flugzeug schmolz rasch dahin, während sich das Flugzeug nur träge vom Ufer fortbewegte.
Indiana fuhr sich nervös mit der Zungenspitze über die Lippen, unterdrückte den Impuls, ständig zu Norten und seinem Begleiter zurückzusehen und konzentrierte sich statt dessen darauf, die Instrumentenpalette vor sich zu mustern. Vorsichtig schob er den Gashebel nach vorne und spürte erleichtert, daß die Maschine schneller wurde. Irgend etwas schrammte aber gleich darauf mit einem häßlichen Geräusch über den Flügel, und für einen kurzen Augenblick war er fast sicher, daß das Flugzeug irgendwo festsaß. Dann kam die Cessna mit einem Ruck frei — und im gleichen Augenblick spürte er, wie etwas Schweres unter ihm wuchtig auf dem Leitwerk landete. Das ganze Flugzeug begann zu zittern und sich mit zunehmender Geschwindigkeit auf der Stelle zu drehen.