«Wo sind wir hier?«fragte er.»Führt dieser Weg zum Tempel?«
Anita antwortete nicht sofort, sondern sah sich einen Moment schweigend und sichtlich voller Nervosität um. Es war zu dunkel in der Höhle, als daß Indiana ihr Gesicht erkennen konnte, aber er spürte ihre Unsicherheit.
«Ich hoffe es«, sagte sie schließlich.
«Sie hoffen es? Das ist ein bißchen wenig — finden Sie nicht?«
«Möglich«, antwortete Anita ungerührt.»Aber es ist das einzige, was ich Ihnen im Moment anbieten kann. «Sie ging weiter, ehe Indiana Gelegenheit fand zu antworten, und Indiana seinerseits schluckte die Bemerkung herunter, die ihm auf der Zunge lag, und beeilte sich, mit ihr Schritt zu halten, ehe er sie in der Dämmerung der Höhle verlor.
Schon nach einem knappen Dutzend Schritte wurde aus dieser Dämmerung vollkommene Dunkelheit. Indiana bedauerte es jetzt, so rasch aus dem Flugzeug gestiegen zu sein. Er hatte sich nicht einmal die Zeit genommen, die Maschine nach einer Lampe, einem Seil oder sonst einem nützlichen Gegenstand zu durchsuchen. So blieb ihm keine andere Wahl, als sich darauf zu verlassen, daß Anita den Weg auch in absoluter Dunkelheit finden würde. Auch der letzte graue Schimmer des Tageslichts war längst hinter ihnen zurückgeblieben, und als sich Indiana einmal im Laufen umdrehte und in die Richtung sah, aus der sie gekommen waren, da bedauerte er dies fast augenblicklich wieder, denn hinter ihnen herrschte die gleiche, undurchdringliche Schwärze wie vor ihnen. Er sah seine Führerin jetzt auch nicht mehr, sondern orientierte sich nur noch am Geräusch ihrer Schritte und ihren leisen Atemzügen.
«Weiß José von diesem Eingang?«fragte er in die Dunkelheit hinein.
«Ich hoffe nicht«, murmelte sie. In leicht spöttischem Tonfall fügte sie hinzu:»Aber er wird es bald, wenn Sie weiter so brüllen, Dr. Jones. «Sie machte eine Bewegung, die er nur hören, aber nicht sehen konnte.»Er ist jetzt nicht mehr weit. Aber seien Sie vorsichtig. Das letzte Stück ist gefährlich.«
Ungeachtet ihrer Warnung setzte Indiana dazu an, nachzubohren, was sie damit meinte — und verlor im gleichen Augenblick den Boden unter den Füßen.
Der bisher in sanfter Neigung in die Erde führende Felsboden ging in eine Geröll- und Schutthalde über, deren Oberfläche unter seinem Gewicht sofort nachgab. Indiana unterdrückte im letzten Moment einen Schrei, ruderte sekundenlang vergeblich mit den Armen und stürzte schwer nach hinten. In einer Lawine aus Schutt, Geröll und Felstrümmern rutschte er gute zehn oder zwölf Meter weit in die Tiefe, bis er mit einem schmerzhaften Ruck liegen blieb.
Als er einen Moment später stöhnend den Kopf hob und die Augen öffnete, sah er wenigstens wieder etwas; auch wenn es nur die bunten Sterne waren, die der Schmerz vor seinen Augen tanzen ließ.
«Verstehen Sie das unter vorsichtig oder leise?«fragte Anita.
Indiana schluckte sämtliche Unhöflichkeiten herunter, die ihm auf der Zunge lagen, und rappelte sich mühsam auf. Die bunten Sterne vor seinen Augen erloschen allmählich, aber ein trüber, roter Schein blieb zurück, und es dauerte einen Augenblick, bis Indiana begriff, daß er nun wirklich Licht sah. Zum ersten Mal seit Ewigkeiten wieder sah er Anita als verschwommenen Schatten vor sich.
«Sind Sie verletzt?«fragte sie, plötzlich sehr ernst und ohne die mindeste Spur von Spott oder Hohn.
«Nein«, sagte Indiana.»Ein paar Kratzer, das ist alles.«
«Gut«, erwiderte Anita.»Dann folgen Sie mir. Und — bitte, Dr. Jones: Seien Sie um Gottes willen leise!«
Indiana fragte sich flüchtig, von welchem Gott sie wohl gesprochen haben mochte, sprach aber auch diese Frage vorsichtshalber nicht aus, sondern folgte ihr wortlos.
Sie bewegten sich in Richtung auf den roten Lichtschein weiter, der rasch an Intensität zunahm und sich bald als der flackernde Schein zahlloser Fackeln entpuppte, die irgendwo vor ihnen brannten. In die kalte, bisher abgestanden riechende Luft der Höhle mischte sich Brandgeruch, und nach einigen weiteren Augenblicken glaubte Indiana auch etwas zu hören: ein dunkles, an-und abschwellendes Murmeln, wie das entfernte Rauschen von Wasser oder Gesang.
Anita ging immer zwei, drei Schritte voraus. Dann und wann hob sie die Hand, um ihm mit einer Geste zu bedeuten, auch ja ruhig zu sein, und obwohl Indiana ihr Gesicht noch immer nicht erkennen konnte, spürte er ihre Furcht.
Aber vielleicht stimmte das gar nicht. Vielleicht war es gar nicht ihre Angst, deren Nagen er fühlte, sondern seine eigene. Dabei war es nicht diese Höhle, die ihm angst machte. Er hatte schon in schlimmeren Löchern gesteckt. Er hatte weder Angst vor engen Räumen noch vor der Dunkelheit; Klaustrophobie hätte er sich in einem Beruf wie dem seinen gar nicht leisten können. Aber er war niemals an einem Ort wie diesem gewesen. Irgend etwas … war hier, das ihm angst machte. Und es wurde stärker, stärker mit jedem Schritt, den sie sich auf das rote Licht und den Gesang zubewegten.
Und dann wußte er, was es war.
Es war das gleiche Gefühl, das ihn schon zweimal befallen hatte; einmal auf Nortens Hazienda und dann vor wenigen Stunden, in Gegenwart des alten Mayas. Das Gefühl, sich etwas Uraltem, ungeheuer Mächtigem zu nähern.
Sie blieben stehen, als sie das Ende des Tunnels erreicht hatten. Vor ihnen lag ein etwas mehr als mannshoher, ungleichmäßig geformter Durchbruch in der Wand, hinter dem sich eine gewaltige Höhle erstreckte. Und es war nicht einfach nur eine Höhle, sondern ein gewaltiger Felsendom, eine Kathedrale aus schwarzer, zu bizarren Formen erstarrter Lava, deren Decke sich so hoch über ihren Köpfen befand, wie ihr Boden unter ihnen lag, und die von Dutzenden, wenn nicht Hunderten brennender Fackeln er- hellt war. Trotzdem reichte das Licht kaum aus, einen kleinen Teil der riesigen Höhle aus der Dunkelheit zu reißen.
Und als Indiana sah, was die Höhle enthielt, sog er ungläubig die Luft zwischen den Zähnen ein.
Unter ihnen erhob sich ein Berg im Berg. Doch dieser gewaltige Keil aus schwarzer Lava war von Menschenhand erschaffen worden. Genau in der Mitte der gewaltigen Höhle erhob sich eine riesige Stufenpyramide. Ihre Form glich der aller anderen Maya-Pyramiden, aber sie war nicht aus rotem Sandstein, sondern aus schwarzer Lava erbaut, und sie bestand auch nicht aus sorgsam aufeinandergetürmten Blöcken, sondern war direkt aus dem Fels des Berges herausgemeißelt worden. Und sie war größer, viel, viel größer als jede andere Maya-Pyramide, die er jemals gesehen hatte. Eine gewaltige Treppe führte zu der Plattform auf ihrer Spitze hinauf, und dort oben brannten zahllose Feuer in kleinen Metallschalen, die im Kreis um einen gewaltigen Altarstein aufgestellt worden waren.
«Was ist das?«flüsterte er fassungslos.
Anita fuhr erschrocken zusammen. Obwohl er sehr leise gesprochen hatte, hallten seine Worte in unheimlich verzerrten Echos von der schwarzglänzenden Lava ringsum zurück.
«Der Tempel der Schlange«, flüsterte sie, nachdem sie sich hastig wieder in den Gang zurückgezogen hatten.»Das Heiligtum befindet sich im Inneren der Pyramide.«
Sie sprach sehr leise, und ihre Worte kamen nur stockend über ihre Lippen. Auch sie wirkte erschüttert. Indiana mußte sie nicht erst fragen, um zu wissen, daß Anita hier noch nie zuvor gewesen war. Und daß der Anblick sie ebenso erschütterte wie ihn. Der Gedanke beruhigte ihn, obgleich er nicht einmal selbst sagen konnte, warum. Gleichzeitig fragte er sich, wie sie den Weg hierher hatte finden können.
Aber das war jetzt unwichtig.»Wissen Sie, wo Ihr Mann ist?«fragte er.
Anita machte eine Bewegung, die eine Mischung aus dem Kopfschütteln und einem Achselzucken zu sein schien.»Wahrscheinlich im Inneren der Pyramide«, sagte sie.»Aber genau weiß ich es auch nicht.«
«Dann müssen wir dort hinein«, entschied Indiana. Anita erschrak sichtbar, und auch er fühlte sich nicht halb so selbstsicher, wie er sich gab. Diese unsichtbare, dunkle Präsenz war noch immer zu spüren, und das stärker denn je. Und die schwarze Pyramide im Herzen des Vulkans war der Quell dieser beklemmenden Gefühle.