José sagte nichts mehr. Einen Moment lang starrte er Joana noch durchdringend an, dann wandte er sich mit einer bedächtigen Geste um, trat ganz dicht an den Altar heran und legte die gespreizten Finger beider Hände auf den schwarzen Stein. Indiana sah erst jetzt, daß die Oberfläche des Lavaquaders nicht leer war: In einem fast geschlossenen Kreis glitzerten zwölf winzige goldene Metallscheiben — die Amulette, die José bereits erbeutet hatte. Nur eine einzige Lücke gab es noch.
«Du bist stark, mein Kind«, sagte er mit einer sonderbar sanften Stimme und ohne Joana dabei anzusehen.»Doch deine Stärke nützt dir nichts. Der Tag ist gekommen, an dem Quetzalcoatl erwachen wird. Nichts kann das jetzt noch ändern. «Er wandte mit einem Ruck den Kopf und sah Joana nun doch an.»Willst du wirklich dein Leben wegwerfen nur um einer Geste willen?«
Joanas Lippen begannen stärker zu zittern. Ihre Augen füllten sich wieder mit Leben, aber auch mit Furcht. Mit einer unbeschreiblichen Furcht. Ihre Hände bebten.
«Gib mir das Amulett«, sagte José noch einmal mit dieser sanften und doch fast unwiderstehlichen Stimme.»Ich spüre, daß du es bei dir hast. Zwinge mich nicht, Gewalt anzuwenden.«
Joana rührte sich noch immer nicht. Selbst über die große Entfernung hinweg glaubte Indiana, die zwingende Macht von Josés Worten zu fühlen — aber das Mädchen widerstand ihr. Wieder bewegte sie die Arme, als wolle sie die Hände heben, und wieder führte sie die Bewegung nicht zu Ende.
José seufzte tief.»Du enttäuschst mich, Kind«, sagte er.»Dein Leben ist noch zu jung, um es wegzuwerfen. Denn wisse, daß ich die Beschwörung auch ohne dieses Schmuckstück durchführen kann. Gibst du mir nicht das Amulett, so wird Quetzalcoatl dein Blut trinken, um zu erwachen. Erwachen wird er so oder so.«
Ein eisiger Schauer lief über Indianas Rücken. José war völlig wahnsinnig, das war ihm jetzt klar. Er würde die Beschwörung durchführen, ob mit oder ohne das dreizehnte Amulett, und Gott allein mochte wissen, was dann geschah; und vielleicht nicht einmal er. Langsam griff José unter seinen grünen Federmantel, und als er die Hand wieder hervorzog, hielt sie einen schmalen Dolch mit einer Klinge aus schwarzem Obsidian. Er trat zurück und machte eine befehlende Geste mit der freien linken Hand, und Indiana beobachtete aus ungläubig aufgerissenen Augen, wie Joana sich mit starren Bewegungen umwandte und sich nach einer weiteren, auffordernden Geste von José auf der Oberseite des Altars ausstreckte. Sie berührte die im Kreis ausgelegten Amulette nicht, und ihr Kopf lag so, daß er die Stelle des fehlenden, dreizehnten Anhängers ausfüllte.
«Quetzalcoatl!«rief José mit schriller, laut hallender Stimme, und die knienden Maya nahmen den Ruf auf und wiederholten ihn:»Quetzalcoatl!«
Indiana schauderte. Aus den Kehlen dieser Männer hörte sich das Wort anders an, völlig anders, als er es jemals gehört hatte. Es war nicht einfach nur ein Name; es war etwas Düsteres, etwas ungeheuer Mächtiges, ein Wort, dessen bloßer Klang schon Furcht und Schrecken und Terror verbreitete, und plötzlich wußte er, daß, was immer er sein mochte, Quetzalcoatl kein gnädiger Gott war, kein Gott des Trostes und der Liebe, kein Gott, der gab, sondern einer, der nur forderte und nahm.
Abermals rief José Quetzalcoatls Namen und abermals intonierte der Chor aus Hunderten und Aberhunderten von Mayas das Wort.
Indianas Gedanken überschlugen sich. Er mußte etwas tun — aber was?!
José trat mit langsamen Schritten um den Altar herum, blieb hinter Joanas Kopf stehen und ergriff das Messer mit beiden Händen. Langsam, ganz langsam, hob er es hoch über den Kopf, und Indiana konnte sehen, wie sich seine Muskeln unter dem grünen Federmantel spannten.»Quetzalcoatl!«schrie José zum dritten Mal.
Aber bevor noch der Chor der Indios das Wort zum dritten Mal aufnehmen und zu einem düsteren Sturm machen konnte, der diesen ganzen Berg zum Erzittern brachte, sprang Indiana aus seinem Versteck hervor und schrie aus Leibeskräften: »Nein!«
José erstarrte mitten in der Bewegung. Die Köpfe Dutzender, dann Hunderter Maya-Krieger wandten sich mit einem Ruck in seine Richtung, und nicht wenige von ihnen sprangen auf und griffen nach ihren Waffen.
José ließ das Messer sinken und machte eine beruhigende Geste zu seinen Kriegern.»Nein«, sagte er.»Laßt ihn.«
Einige Sekunden lang stand er einfach da und starrte ihn an, und Indiana konnte die Mischung aus Überraschung und bösem Triumph in seinen Augen erkennen. Dann senkte er die Hand mit dem Dolch, kam mit gemessenen Schritten um den Altar herum und machte eine auffordernde Handbewegung.
«Du bist also gekommen, Indiana. Ich wußte, daß du das Mädchen nicht im Stich lassen würdest.«
«Laß sie in Ruhe!«rief Indiana zornig.»Wenn du ein Menschenopfer brauchst, dann …«
«Ja?«fragte José lauernd, als Indiana nicht weitersprach.
Indiana atmete tief ein. Seine Gedanken drehten sich wild im Kreis, und er entwickelte und verwarf in Bruchteilen von Sekunden Hunderte von Plänen.»Dann nimm mich«, sagte er schließlich.
José wirkte nicht einmal sonderlich überrascht. Er lächelte, aber es war ein böses, ein durch und durch böses Lächeln. Schließlich wiederholte er seine auffordernde Geste, und Indiana setzte sich mit langsamen Schritten in Bewegung. Er mußte all seine Willenskraft aufwenden, um auf den schmalen Felsgrat hinauszutreten. Was ihm bisher wie eine breite, natürlich gewachsene Brük-ke über die kochende Lava vorgekommen war, entpuppte sich bei näherem Hinsehen als ein kaum handtuchbreiter Streifen aus Stein, der so glatt war wie poliertes Glas. Fünfzig oder auch hundert Meter unter ihm brodelte der Fels in roter Glut, und aus der Tiefe stieg ein erstickender Hauch empor, der ihm das Atmen unmöglich machte. Trotzdem ging er weiter, ohne auch nur einen Schritt innezuhalten.
Die Maya wichen rechts und links von ihm zur Seite, als er den Steinkreis in der Mitte des Kraters betrat und sich José näherte. Aber hinter ihm schlossen sich ihre Reihen sofort wieder.
«Ich nehme an, du bist gekommen, um mir mein Eigentum zurückzugeben«, sagte José, als er ihn erreicht hatte und zwei Schritte vor ihm stehenblieb.
«Dein Eigentum?«
Ein Schatten huschte über Josés Gesicht.»Spiel nicht den Narren, Indy«, sagte er.»Das Amulett. Gib es mir!«Er streckte fordernd die Hand aus.
Indiana schüttelte den Kopf.»Du täuschst dich, José«, sagte er.»Ich habe es nicht.«
«Du lügst!«
«Laß mich von deinen Männern durchsuchen, wenn du mir nicht glaubst«, sagte Indiana ruhig.»Ich habe das Amulett nicht.
So wenig wie Joana.«
Josés Gesicht schien in einer Maske zu erstarren. Sekundenlang musterte er Indiana eindringlich und auf eine Art, als versuche er, die Gedanken hinter seiner Stirn zu ergründen, dann sagte er noch einmaclass="underline" »Du lügst.«
«Ich sage die Wahrheit«, beharrte Indiana.»Du hättest dich etwas gründlicher umsehen sollen, mein Freund. Was du suchst, ist auf dem Schiff zurückgeblieben.«
«Dann muß Blut das fehlende Glied der Kette ersetzen«, sagte José.
«Du bist ja vollkommen wahnsinnig«, flüsterte Indiana.
José lächelte, als hätte er ihm geschmeichelt.»Vielleicht«, sagte er.»Aber ich will mich nicht mit dir streiten, Indy. Und um unserer alten Freundschaft willen mache ich dir ein letztes Geschenk — du darfst wählen, wessen Blut es ist, das vergossen wird. Deines — oder das des Mädchens.«
Er trat einen halben Schritt beiseite und drehte sich gleichzeitig so, daß er mit einer einladenden Handbewegung auf den Altar deuten konnte. Tatsächlich machte Indiana einen Schritt — und blieb wie erstarrt wieder stehen.