«Was immer du jetzt vorhast, tu es nicht«, sagte er.»Ich weiß, daß du mich umbringen lassen kannst. Aber dann würden sie«— er deutete auf Bentley und den Soldaten —»dich töten. In der gleichen Sekunde. Und dann wäre niemand mehr da, der die Aufgabe erfüllen kann. Das möchtest du doch nicht, oder?«
«Du bist ein Ungläubiger«, sagte José haßerfüllt.»Deine Anwesenheit hier beleidigt die Götter.«
«Das mag sein«, antwortete Norten mit einem Achselzucken.»Aber ich bin nun einmal hier, nicht wahr?«Er lächelte, trat an José vorbei und blickte auf den Altar.»Ah, Dr. Jones«, sagte er mit gespielter Überraschung.»Sie sind auch da, welche Freude.«
«Wie sind Sie so schnell hierhergekommen?«fragte Indiana.
«Wenn man etwas wirklich will, gibt es immer Mittel und Wege«, erwiderte Norten.»Ich muß Ihnen mein Kompliment aussprechen, Dr. Jones. Für einen Mann, der angeblich überhaupt nicht fliegen kann, haben Sie das Flugzeug in einer Meisterlandung in den Vulkankessel gesetzt. Der Rückweg wird sich allerdings etwas komplizierter gestalten, fürchte ich.«
Indianas Blick wanderte zwischen Nortens und Josés Gesichtern hin und her. Seine anfängliche Erleichterung, Norten und die Soldaten zu sehen, machte einem immer heftiger werdenden Unbehagen Platz. Er war mit einem Male nicht mehr sicher, ob er nicht vom Regen in die Traufe geraten war.
Norten trat wieder einen Schritt zurück und machte eine Handbewegung.»Wenn ich Sie jetzt bitten dürfte, dort herunterzukommen.«
Indiana zögerte. Langsam stand er auf, zog Joana mit sich in die Höhe und schätzte die Entfernung ab, in der der Boden mit einem Teppich aus Schlangenleibern bedeckt war. Es waren gute drei Meter — eine Distanz, die er normalerweise ohne Schwierigkeiten übersprungen hätte. Aber Joana war immer noch unsicher und stand nur schwankend auf ihren eigenen Füßen.
«Oh, ich vergaß«, sagte Norten lächelnd.»Ihre Angst vor Schlangen. Entschuldigen Sie, Dr. Jones. «Und dann tat er etwas, was Indiana vollkommen überraschte. Lächelnd trat er weiter auf den Altar zu, und da, wo er entlangging, teilte sich die Masse der Schlangen und gab einen schmalen Weg frei.
«Bitte, Dr. Jones.«
Indiana stieg zögernd von dem Altarblock herunter, und Norten streckte die Hand aus, um Joana beim Absteigen behilflich zu sein. Ohne von den Schlangen auch nur berührt zu werden, schritten sie durch die Masse aus Tausenden von Tieren hindurch, die sich hinter ihnen so lautlos wieder schloß, wie sich der Weg aufgetan hatte. Und plötzlich hatte Indiana das Gefühl, einen fürchterlichen Fehler gemacht zu haben. Etwas war anders, völlig anders, als er bisher angenommen hatte.
Norten wartete, bis sich Indiana und das Mädchen ein paar Schritte weit entfernt hatten, dann trat er abermals an den Altar heran und musterte die Anordnung aus Amuletten, die José vorbereitet hatte. Mit bedächtigen Bewegungen schob er sie wieder an ihren angestammten Platz zurück, bis der Kreis fast geschlossen war. Dann drehte er sich zu Joana herum und streckte die Hand aus.»Du hast etwas, das mir gehört, Liebling«, sagte er.
Joana starrte ihn an und schwieg. José sagte:»Sie hat es nicht.«
«Hat sie dir das gesagt?«fragte Norten lächelnd. José nickte, und Nortens Lächeln wurde noch breiter — und eine Spur böser.»Ich fürchte, das liebe Kind hat dich belogen, alter Freund«, sagte er spöttisch.»Sie hatte das Amulett bei sich, als du sie von Bord des Schiffes entführt hast. Ich weiß es. «Er schwieg einen Moment, in dem er Joana weiter durchdringend anstarrte, dann streckte er abermals und diesmal mit einer herrischen Geste die Hand aus.»Bitte!«
Joana rührte sich immer noch nicht. Für einen Moment huschte ein Ausdruck von Zorn über Nortens Gesicht, machte aber sofort wieder diesem bösen, durch und durch zynischen Lächeln Platz. Mit fast bedächtigen Bewegungen zog er ein beidseitig geschliffenes Messer aus dem Gürtel und ließ die Klinge im roten Licht aufblitzen.»Ich könnte dich zwingen, es mir zu geben«, sagte er.»Aber eigentlich möchte ich das nicht. Ein Gesicht wie das deine wäre viel zu schade, um entstellt zu werden — finden Sie nicht auch, Dr. Jones?«Bei den letzten Worten hatte er sich herumgedreht und war auf Indiana zu getreten. Die Messerklinge näherte sich dessen Kehle.
«Ich denke, ich werde Ihr Gesicht in Streifen schneiden, Dr. Jones«, fuhr Norten in einem Tonfall fort, als rede er über das Wetter.»Es ist sicherlich interessant, herauszufinden, wieviel Schmerz Sie ertragen können. Und wie lange Ihre kleine Freundin dabei zuhören kann. Das vor allem.«
Indiana wich so weit vor der näherkommenden Messerklinge zurück, wie er konnte, stieß aber schon nach ein paar Schritten gegen die vordersten Maya-Krieger. Kräftige Hände packten ihn und hielten ihn fest, während sich Nortens Messerspitze abermals seinem Gesicht näherte. Ganz leicht, ohne die Haut auch nur zu ritzen, fuhr sie über seine Wange und zielte auf sein linkes Auge.
«Hör auf!«
Norten hielt tatsächlich mitten in der Bewegung inne, zog das Messer aber nicht zurück, sondern wandte nur den Kopf zu Joana um.»Ja?«
«Hör auf, Onkel Norten«, sagte Joana noch einmal.»Ich … gebe es dir.«
«Ich wußte doch, daß du ein vernünftiges Kind bist. «Norten senkte das Messer, drehte sich vollends zu dem Mädchen herum und streckte wieder die Hand aus. Joana zögerte noch eine Sekunde, dann hob sie die rechte Hand an den Kopf, griff mit den Fingern unter den weißen Verband über ihrer Stirn und zog das winzige Amulett hervor, um es Norten zu geben.
«Nicht schlecht«, sagte Norten anerkennend.»Du hast Phantasie, das muß man dir lassen.«
Er schloß die Hand um das Amulett, blickte José einen Moment lang triumphierend an und trat dann ohne ein weiteres Wort wieder an den Altar. Mit einer raschen Bewegung legte er das letzte Amulett an den noch freien Platz, wodurch der Kreis aus winzigen, runden Goldmünzen geschlossen wurde, und trat wieder zurück.
Indiana erwartete, daß jetzt irgend etwas geschehen würde. Auch José wirkte mit einem Male fast sprungbereit, aber nichts änderte sich. Nach einigen Sekunden griff Norten in die Tasche, zog eine Uhr hervor und klappte den Deckel auf.»Es ist noch Zeit«, sagte er.»Nur noch fünf Minuten, aber das sollte reichen. «Er drehte sich zu José herum.»Ich nehme es dir nicht übel, daß du versucht hast, mich hereinzulegen«, sagte er.»Um ehrlich zu sein — ich hätte dasselbe getan, hätte ich es gekonnt. Aber so, wie die Dinge liegen, sind wir wohl aufeinander angewiesen, nicht wahr?«
«Es wird dir niemals gelingen, Quetzalcoatl zu erwecken«, sagte José düster.
Norten zuckte mit den Achseln.»Da wäre ich nicht so sicher, mein Freund«, antwortete er.»Und selbst wenn — dann gelingt es eben uns beiden gemeinsam. «Seine Hand machte eine weit ausholende, flatternde Geste, die die ganze Höhle einschloß.»Ich würde sagen, die Situation ist ein klassisches Patt. Wir können uns gegenseitig umbringen oder das große Werk zusammen vollenden. Was ist dir lieber?«
«Das kann nicht Ihr Ernst sein, Norten«, rief Indiana entsetzt.
Indiana deutete mit einer Kopfbewegung auf José.»Von diesem Wahnsinnigen habe ich nichts anderes erwartet — aber Sie? Sie sind ein vernünftiger Mann, Norten! Kommen Sie zu sich! Spüren Sie denn nicht, was es mit diesem Ort auf sich hat?«
Norten fuhr herum. Seine Augen flammten auf wie die eines Wahnsinnigen.»Ob ich es spüre?«wiederholte er.»Was für eine Frage?! Hier liegt der Quell ungeheurer Macht, Dr. Jones. Und sie wird mir gehören! Mein Leben lang habe ich danach gesucht, und jetzt bin ich am Ziel.«
«Alles, was Sie finden werden, ist der Tod«, murmelte Indiana ernst.»Oder etwas Schlimmeres.«