Die Bank, war nur zwei Straßenzüge entfernt. Er brauchte knapp zehn Minuten, um sie zu erreichen, und dann nicht einmal eine Dreiviertelstunde, bis die Schlange an dem einzigen geöffneten Schalter so weit vorgerückt war, daß er seinen Kreditbrief zücken und sein Konto um die Kleinigkeit von eintausendfünfhundert US-Dollar erleichtern konnte.
Der Anblick der sauber gebündelten Geldscheine erinnerte ihn wieder daran, wie närrisch er sich am vergangenen Abend benommen hatte. Und eigentlich hatte er noch Glück gehabt: Wäre José nicht zufällig ein alter Bekannter von ihm, dann hätte er jetzt nicht einmal das Amulett auslösen können. Der Goldwert des winzigen Anhängers betrug zwar nicht einmal annähernd die eintausendeinhundert Dollar, für die er es als Pfand hergegeben hatte, aber unter Sammlern würde es unter Umständen wesentlich mehr bringen.
Indiana stopfte das Geld achtlos in die Jackentasche und wandte sich um. Allmählich wurde die Zeit doch knapp. Zu seiner Verabredung mit José kam er ohnehin schon zu spät, aber wenn er weiter so herumtrödelte, dann würde er auch noch seinen Termin mit dem Rechtsanwalt verpassen. Er hoffte nur, daß José ihn nicht allzu lange aufhalten würde.
Als er durch die große, marmorverkleidete Halle lief, prallte er mit einer hochgewachsenen Gestalt zusammen. Indiana murmelte eine Entschuldigung, lief weiter — und blieb noch einmal stehen.
Irgend etwas an dieser Gestalt war …
Er wußte nicht, was — aber irgend etwas erregte seine Aufmerksamkeit. Unauffällig drehte er sich noch einmal um und musterte den großen, breitschultrigen Mann genauer, den er um ein Haar über den Haufen gerannt hätte.
Er konnte sein Gesicht nicht sehen. Der Mann schlenderte — scheinbar ziellos — durch die Halle, hatte die rechte Hand in der Jackentasche und hielt in der linken den Stummel einer brennenden, filterlosen Zigarette. Aber das, was Indiana von hinten sah, das war an sich schon ungewöhnlich genug: Der Mann war ein Riese, weit über zwei Meter groß und mit der entsprechenden Schulterbreite. Er trug einen maßgeschneiderten Anzug, der sich an Oberarmen und Brust über mächtigen Muskelpaketen wölbte, und auf Hochglanz polierte, schwarze Lackschuhe. Sein Haar war von der gleichen Farbe: ein dunkles, fast schon blauschimmerndes Schwarz, wie man es nur selten zu sehen bekam.
Und er bewegte sich merkwürdig.
Es dauerte einen Moment, bis Indiana begriff, was an seiner Art zu gehen so störend war: Es waren die Bewegungen eines Mannes, der weder diese Umgebung noch die Kleidung gewohnt war. Er wirkte unsicher, ungeschickt und beinahe ängstlich. Auf einmal blieb er ebenfalls stehen und drehte sich zur Seite. Und Indiana konnte ihn zumindest im Profil erkennen.
Und was für ein Profil!
Die kräftigen, ausgeprägten Kiefer, die leicht hervortretenden Wangenknochen, die scharfe Adlernase und die ganz leicht fliehende Stirn: Der Mann war ein Indianer, ein südamerikanischer Indianer, seiner Hautfarbe und dem charakteristischen Profil nach zu schließen ein Maya oder Azteke. Und Indiana glaubte jetzt auch zu verstehen, warum er sich so linkisch und unsicher bewegte. Selbst in einer Stadt wie New Orleans, die Fremde und Absonderlichkeiten gewohnt war, mußte ein Mann wie er auffallen, noch dazu ein solcher Riese.
Der Fremde vollendete seine Drehung und sah Indiana direkt ins Gesicht. Und nach ein paar Sekunden wurde Indiana klar, daß er ihn angestarrt hatte. Er lächelte verlegen, deutete ein Nicken an und beeilte sich, sich herumzudrehen und die Bank endgültig zu verlassen.
Diesmal fand er ein Taxi, und er hatte Glück — der Fahrer verzichtete darauf, den offensichtlich ortsunkundigen Passagier kreuz und quer durch die Stadt zu kutschieren, sondern gab sich mit dem Trinkgeld zufrieden, das Indiana ihm vorsichtshalber schon vor Antritt der Fahrt in die Hand gedrückt hatte, und fuhr auf direktem Wege zu Josés Hotel.
Indiana hatte halbwegs erwartet, José schon unten in der Halle anzutreffen, denn sie hatten sich fest verabredet, aber die Hotelhalle war leer bis auf eine dunkelhaarige, südamerikanische Schönheit, die auf einer kleinen Chaiselongue neben dem Eingang saß und ihn forschend musterte, als er sich dem Empfang näherte.
Er nannte Josés Namen und erwartete eine Zimmernummer als Antwort, aber statt dessen sah ihn der Mann hinter der Theke einen Moment lang nur beinahe erschrocken an und sagte dann:
«Sie sind Dr. Jones, nehme ich an.«
Indiana nickte verblüfft. Er konnte sich plötzlich des Gefühls nicht mehr erwehren, daß auch dieser Tag noch unangenehme Überraschungen für ihn bereithielt.
«Es tut mir leid, Dr. Jones«, fuhr der Empfangschef fort.»Aber Señor Perez ist heute morgen abgereist.«
«Abgereist?«wiederholte Indiana überrascht.
Der Empfangschef nickte.»Ja. Aber sehen Sie die Lady dort neben der Tür?«Er hob die Hand und deutete auf die Südamerikanerin, die Indiana immer noch wie hypnotisiert anstarrte, und Indiana nickte.»Sie hat eine Nachricht für Sie, Dr. Jones.«
Indiana bedankte sich, drehte sich um und ging auf die Frau zu. Sie sah ihm entgegen, rührte sich aber nicht, sondern blieb reglos sitzen, bis er bei ihr angekommen und wieder stehengeblieben war. Zwischen ihren Augenbrauen entstand eine steile Falte, und der Ausdruck auf ihrem Gesicht war … sonderbar. Fragend, aber auch ein bißchen unsicher, fand Indiana; beinahe ängstlich.
Er räusperte sich gekünstelt, und endlich brach die Dunkelhaarige ihr Schweigen.»Dr. Jones?«
Indiana nickte.»Ja. Ich war mit …«
Sie unterbrach ihn mit einer Geste.»Sie sehen genauso aus, wie José Sie mir beschrieben hat«, sagte sie.»Ich war nur nicht ganz sicher. Entschuldigen Sie, wenn ich Sie nicht gleich angesprochen habe.«
«Das macht doch nichts«, antwortete Indiana automatisch.»Darf ich fragen, wer Sie …?«
«Oh, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt«, sagte die Schwarzhaarige mit einem raschen, flüchtigen Lächeln.»Mein Name ist Anita. Ich bin Josés Frau.«
Jetzt war es Indiana, der überrascht war.»Ich wußte gar nicht, daß er verheiratet ist«, sagte er — und bedauerte die Worte fast auf der Stelle wieder, denn die Frau vor ihm hatte sich nicht gut genug in der Gewalt, als daß nicht ein kurzer, betroffener Ausdruck über ihre Züge gehuscht wäre. Wie es aussah, hatte er da einen wunden Punkt getroffen.
«Entschuldigung«, murmelte er.
Anita machte eine wegwerfende Handbewegung und deutete fast übergangslos auf den Sessel ihr gegenüber. Indiana setzte sich und sah sie fragend an. Sekundenlang sagte keiner von ihnen etwas. Und das Schweigen, das sich in diesen wenigen Augenblicken zwischen ihnen ausbreitete, war irgendwie unangenehm. Indiana ahnte, daß das, was Josés Frau ihm sagen wollte, nicht besonders erfreulich sein würde.
«Ist irgend etwas … mit José?«fragte er unsicher.
Anita schüttelte den Kopf.»Nein«, sagte sie.»Oder doch. Ja. Wie man es nimmt. «Sie lächelte flüchtig und fuhr mit einer erklärenden Geste fort:»Bitte verzeihen Sie, daß mein Mann nicht selbst mit Ihnen sprechen kann, Dr. Jones. Aber er mußte überraschend aufbrechen. Und auch ich habe leider nicht allzuviel Zeit.«
«Das macht doch nichts«, sagte Indiana.»Es ist nur …«
Er wurde wieder unterbrochen.»Ich weiß, weshalb Sie hier sind«, sagte Anita. Sie griff in ihre Handtasche und nahm ein weißes Papiertütchen heraus.»Sie wollen das hier«, sagte sie.
Indiana streckte die Hand aus und nahm das Päckchen entgegen. Er wußte bereits, was es enthielt, noch ehe er es auswickelte. Überrascht nahm er die Goldkette hoch, hielt sie einen Moment reglos fest und ließ sie dann in der geschlossenen Hand verschwinden.»José hat Ihnen erzählt, was passiert ist?«
Wieder nickte Anita, und wieder sah ihr Gesicht aus, als bedeute seine Frage für sie viel mehr, als er ahnte.»Ja«, sagte sie.»Sie haben gespielt, und Sie haben verloren, Dr. Jones.«
Indiana lächelte zerknirscht, ließ die Kette mit dem goldenen Anhänger rasch in der Jacke verschwinden und zog das Geld, das er von der Bank geholt hatte, aus der anderen Tasche.