Das ist nicht zu übersehen, dachte Indiana. Die JU80 sah aus wie ein dreidimensionales Puzzle, das jemand mit viel zu großen, ungeschickten Wurstfingern zusammengesetzt hatte.
«Die Maschine muß vorher schon einmal abgestürzt sein«, sagte Franklin,»oder eine ziemlich unsanfte Notlandung hinter sich gehabt haben. Offensichtlich wurde sie mit primitivsten Mitteln wieder instand gesetzt. Diese Privatpiloten sind manchmal die reinsten Zauberkünstler und kriegen es hin, eine Maschine mit einer Rolle Draht und ein paar Nägeln wieder flottzukriegen. «Er lachte leise, aber seine Augen blieben ernst.»Aber das ist es nicht, was uns angst macht, Dr. Jones.«
«Und was … macht Ihnen angst?«fragte Indiana zögernd. Er hatte das Gefühl, er kennte die Antwort bereits.
Franklin beugte sich vor.»Das«, sagte er und deutete nach einander auf drei verschiedene Punkte am Flugzeugwrack.
«Und das und das.«
Auch Indiana waren die Stellen schon aufgefallen. Fragend sah er Franklin an.
«Wir haben das Wrack von mehreren Metallurgen untersu chen lassen«, sagte Franklin.»Sie sagen alle übereinstimmend das gleiche: Das Metall muß unvorstellbaren Temperaturen ausgesetzt gewesen sein. Sehen Sie die Verfärbungen an den Rändern?«
Indiana nickte. Wieder spürte er ein eiskaltes Frösteln.
«…haben sie versucht, es zu schweißen?«sagte Grisswald stockend.
«Kein Schweißgerät entwickelt Temperaturen von mehreren tausend Grad Kelvin«, antwortete Franklin ruhig.»Und — Sie können es auf diesem Bild genauer erkennen, sehen Sie — «, er reichte Grisswald ein anderes Foto,»— die Löcher haben jeweils das passende Gegenstück auf der anderen Seite der Maschine.«
«Als hätte jemand darauf geschossen«, murmelte Indiana schaudernd.»Aber womit?«
Franklins Antwort bestand aus einem vielsagenden, düsteren Schweigen. Er nahm ein weiteres Foto zur Hand, zeigte es ihnen aber noch nicht.»Wir sprachen von den beiden Passagie ren, erinnern Sie sich?«fuhr er fort.»Der Pilot war sehr schwer verwundet, als man ihn aus dem Wasser zog. Ich … habe auch Bilder von ihm, aber ich werde Ihnen den Anblick ersparen, wenn Sie nicht darauf bestehen. Bitte glauben Sie mir einfach, daß er fast bis zur Unkenntlichkeit verbrannt war. Wie er es überhaupt geschafft hat, das Flugzeug zum Atoll zurückzusteu ern, ist uns allen ein Rätsel.«
«Und der andere?«fragte Indiana.
«Der Copilot? Ein gewisser Perkins, einer der Passagiere. Offensichtlich hat er beim Aufprall das Bewußtsein verloren und ist ertrunken. Aber auch er war nicht unverletzt. «Er legte eine sekundenlange, genau bemessene Pause ein.»Der Mann war blind. Der Pathologe, der ihn untersucht hat, erklärte, daß seine Netzhäute verbrannt seien.«
«Wissen Sie, was Sie da sagen?«fragte Indiana. Es war eine ausgesprochen dumme Frage, und Franklin machte sich nicht einmal die Mühe, darauf zu antworten. Stumm reichte er Indiana und Grisswald das Foto, das er bisher selbst in der Hand gehalten hatte.
Indianas Finger begannen zu zittern, während er es betrachte te. Er konnte regelrecht fühlen, wie Grisswald neben ihm blaß wurde.
«Die dunklen Linien sind Blut«, sagte Franklin leise.»Menschliches Blut. Offensichtlich hatte er keinen Stift zur Hand.«
Es war eine grobe Zeichnung, die mit ungeschickten, dicken Strichen auf ein Stück des Armaturenbretts der JU gemalt worden war. Sie zeigte — nur grob und angedeutet, aber trotzdem klar zu erkennen — drei Dinge: eine der gewaltigen Götterstatuen, das Flugzeug- und einen gezackten Blitz, der aus den Augen der Steinfigur fuhr und das Flugzeug aufspießte.
«Ich glaube, ich verstehe Sie jetzt«, flüsterte Indiana.
«Das hoffe ich, Dr. Jones«, antwortete Franklin ernst.»Und ich hoffe bei Gott, daß wir uns alle irren und das alles nur die Fieberphantasien eines sterbenden Mannes sind.«
«Ich … ich verstehe einfach nicht, was … was das alles bedeutet«, stammelte Grisswald. Indiana sah ihn an, und etwas in seinen Augen machte Indiana klar, daß er sehr wohl verstand, es im Moment aber einfach noch nicht zugeben wollte.
«Es gibt schon seit Jahren Gerüchte, daß die Nazis an einer neuen Geheimwaffe arbeiten, Professor Grisswald«, sagte Franklin. Er deutete auf das Foto, auf dem die fast bis zur Unkenntlichkeit zerschmolzene Flanke des Flugzeuges zu erkennen war.»Es sieht so aus, als wäre sie fertig.«
Eine Stunde später begann es zu dämmern, und mit der Nacht zog sich auch der Sturm in sein finsteres Versteck zurück. Der Seegang ließ spürbar nach, und die HENDERSON legte noch einmal ein paar Knoten an Tempo zu. Sie waren auf die Brücke hinausgegangen. Indiana fielen die nervösen Blicke auf, die der Brückenoffizier immer wieder auf das Meer warf.
Nach allem, was er von Franklin erfahren hatte, verstand er diese Nervosität nur zu gut. Wenn die Deutschen tatsächlich auf irgendeiner der polynesischen Inseln ein Geheimlabor unterhielten, in dem sie an der Entwicklung einer möglicher weise kriegsentscheidenden Waffe arbeiteten, dann würden sie jedes Stück Treibholz herumdrehen, das sie im Umkreis von tausend Seemeilen fanden. In der Nacht hatte ihnen die Dunkelheit noch ein bißchen Schutz vor deutschen U-Booten oder Flugzeugen gewährt. fetzt befand sich das Schiff praktisch auf dem Präsentierteller. Die HENDERSON war alles andere als klein.
«Angst?«fragte eine Stimme hinter ihm. Indiana drehte sich um und erkannte Delano. Der Commander sah blaß aus, übernächtigt und spürbar nervös.
«Sie nicht?«gab Indiana zurück.»Wenn ich an der Stelle der Deutschen wäre, dann würde ich alles versenken, was auch nur verdächtig sein könnte.«
«Ja, vielleicht. «Delano seufzte. Sein Blick irrte unstet über die endlos grau daliegende Fläche des Meeres.»Aber ganz so schlimm ist es nun auch wieder nicht, Dr. Jones. Nicht einmal die Nazis würden es wagen, ohne triftigen Grund ein Schiff anzugreifen, das in einer friedlichen Forschungsmission unterwegs ist.«
«Und die Laderäume voller Waffen und Soldaten hat, nehme ich an.«
Delano lächelte flüchtig.»Diese Reporter, die Ihnen in Syd ney so auf die Nerven gegangen sind, Dr. Jones, sind gewis sermaßen unsere Lebensversicherung. Alle Welt weiß jetzt, daß die HENDERSON auf dem Weg zu den Osterinseln ist. Und auch, warum.«
«Sie haben uns aber immer noch nicht gesagt, welche Rolle Grisswald und ich in Ihrer kleinen Charade spielen«, sagte Indiana.
«Professor Grisswald …«Delano sah sich um, als wollte er sich erst davon überzeugen, daß Grisswald nicht in Hörweite war, ehe er antwortete.»Der war sozusagen eine unerwartete, aber willkommene Zugabe. Die HENDERSON befindet sich tatsächlich auf dem Weg zu den Osterinseln, Dr. Jones. Professor Grisswald wird dort nach Herzenslust graben und forschen können. Wir hoffen, daß ihm die halbe Welt dabei zusieht.«
«Während Sie und Franklin nach etwas ganz anderem su chen«, vermutete Indiana.
Delano nickte.»Ja. Im Moment sind die Statuen auf den Osterinseln unsere einzige Spur — beinahe, jedenfalls. Viel leicht gelingt es uns, über sie oder die Polynesier die genaue Position der anderen Insel ausfindig zu machen.«
Indiana starrte sein Gegenüber mit offenem Mund an.»Wie bitte?«ächzte er.»Wissen Sie überhaupt, wovon Sie da reden? Solche Forschungen können Jahre dauern, falls sie überhaupt je — «
Delano hob besänftigend die Hände.»Ich sagte, beinahe, Dr. Jones«, erklärte er.»Es gibt noch eine zweite Spur. Die ist zwar reichlich dünn, aber im Moment die einzige, die wir haben. Franklin hat Ihnen vom Pau-Pau-Atoll erzählt. Nun, es gibt dort einen … Mann. Eine etwas zwielichtige Erscheinung, wie ich gehört habe. Sein Name ist Ganty. Er erzählt seit Jahren verrückte Geschichten über eine Insel, auf der es angeblich ein Volk von Riesen geben soll. Niemand glaubt ihm, aber ich denke, es ist an der Zeit, daß wir uns einmal mit ihm unterhalten. «Er machte eine vage Geste auf das Meer hinaus.»Die HENDERSON ist ziemlich schnell, Dr. Jones. Schnell genug, daß sie einen kleinen Umweg machen und trotzdem pünktlich an ihrem Ziel ankommen kann. Sie und ich werden in etwa zwei Stunden in ein Wasserflugzeug umstei gen, das uns nach Pau-Pau bringt.«