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Indiana starrte einen Moment aufmerksam in die Richtung, in die Delano geschaut hatte. Täuschte er sich, oder sah er tatsächlich einen Schatten auf dem Meer?

«Was meinen Sie, Jones — sagt Ganty die Wahrheit, oder ist er wirklich nur ein alter Spinner, wie alle behaupten?«fragte Delano.

Indiana riß seinen Blick vom Meer los und sah Delano an.

«Ich weiß es nicht«, gestand er.»Aber ich habe sein Gesicht beobachtet, als er die Bilder sah. Er war nicht besonders überrascht. Er hat so etwas wie auf den Fotos und der Zeich nung auf jeden Fall schon einmal gesehen.«

«Diese seltsamen Götzenbilder, meinen Sie?«Delano wandte sich um und begann gemächlich wieder auf die Stadt zuzuge hen. Indiana folgte ihm.

«Es sind keine Götzenbilder«, antwortete er lächelnd.»Jeden falls glaube ich das nicht. Waren Sie jemals auf den Osterin-seln, Delano?«

«Ich? Gott bewahre, nein.«

«Aber Sie haben die Bilder gesehen?«

«Selbstverständlich. Sie sind beeindruckend.«

«Und die Originale sollen noch viel beeindruckender sein«, sagte Indiana.»Ich war auch noch nie dort, aber ich habe natürlich das eine oder andere gelesen. Sie sind bis zu zwölf Meter hoch, und einige sollen mehr als dreißig Tonnen wiegen. Wenn Sie bedenken, daß die Polynesier keine Werkzeuge aus Eisen kannten, ehe die Weißen sie entdeckten, dann wird das noch beeindruckender.«

«Kein Eisen?«vergewisserte sich Delano.»Aber womit haben sie diese Dinger denn dann aus dem Fels gehauen?«»Das wüßten nicht nur Sie und ich gerne«, antwortete Indiana.»Und das ist noch nicht einmal das Erstaunlichste. Sie haben diese Figuren aus dem Felsgestein der Vulkane herausgemei ßelt, wissen Sie? Meilen im Landesinneren. Aber einige stehen an der Küste. Niemand weiß genau, wie sie dorthin gekommen sind, aber die Legende behauptet hartnäckig, sie wären dorthin gelaufen.«

«Gelaufen?«Delano riß erstaunt die Augen auf.»Sagten Sie nicht gerade erst, die wären zwölf Meter hoch und würden ein paar Dutzend Tonnen wiegen?«

«Es ist trotzdem möglich«, sagte Indiana.»Wahrscheinlich haben sie sie aufgerichtet und dann stehend transportiert. «Er blieb stehen, stellte die Füße ganz dicht nebeneinander und begann auf der Stelle zu wackeln.»So, sehen Sie? Ich schätze, sie haben Seile um ihre Hälse gebunden und dann vorsichtig in alle Richtungen zugleich gezogen und gewackelt, bis sie nach und nach den Weg hinunterzuhoppeln begannen. Es gibt ein paar zerbrochene Statuen, die offenbar gestürzt sind und daher diese Theorie zu untermauern scheinen. «Er lächelte und ging weiter.»Aber wie gesagt, es ist nur eine Theorie. Niemand hat bisher versucht, sie experimentell zu beweisen.«

Delano runzelte anerkennend die Stirn.»Für jemanden, der nichts weiß, außer der Tatsache, daß er sehr wenig weiß, wissen Sie eine Menge, Dr. Jones«, sagte er.

«Aber was ich weiß, weiß ich genau«, fügte Indiana lächelnd hinzu.»Es ist ein sehr interessantes Thema, Delano. Sie werden sehen, daß die Osterinseln viele Geheimnisse bergen. Und bisher leider sehr viel mehr Fragen als Antworten.«

«Und Sie glauben, Ganty hat darauf Antworten?«

«Vielleicht ein paar«, sagte Indiana achselzuckend.»Ist Ihnen aufgefallen, wie er unsere Ohren studiert hat?«

Delano hob ganz automatisch die Hand und befühlte sein Ohrläppchen. Als ihm die Bewegung selbst zu Bewußtsein kam, ließ er den Arm beinahe verlegen wieder sinken.

«Das war kein Zufall«, sagte Indiana.

Delano sah ihn scharf an.

«Sehen Sie, Delano — die Osterinseln sind heute kaum noch bewohnt, aber das war nicht immer so. Bis vor ungefähr zweihundert Jahren gab es dort eine blühende Zivilisation. Sie ging unter, weil die Stämme ein paar Kriege zuviel gegenein ander führten. Man nimmt an, daß sie ihre eigenen Lebens grundlagen zerstört haben. Sie haben ein paar Wälder zuviel abgeholzt, um Festungswälle und Waffen zu bauen. Schließlich kam es zum ökologischen Kollaps, und die gesamte Tier- und Pflanzenwelt brach zusammen. Die Inseln hatten einmal über zehntausend Einwohner. Heute kann von dem, was dort wächst, gerade noch eine Handvoll Bauern existieren.«

«Interessant«, sagte Delano.»Aber was hat das mit unseren Ohren zu tun?«

«Warten Sie ab«, sagte Indiana.»Die Osterinselkultur war in zwei Klassen unterteilt — die eine herrschte, und die andere wurde beherrscht. In dem letzten großen Krieg zerschlugen die Sklaven die Tyrannei ihrer Herrscher und löschten sie aus. Die Legende sagt, daß nur eine Handvoll von ihnen mit dem Leben davonkam und fliehen konnte.«

«Aha«, sagte Delano. Er klang ein kleines bißchen ungedul dig.

«Die Sklaven waren normale Polynesier«, fuhr Indiana fort.

«Ihre Herren sollen angeblich einem Volk von Riesen ent stammt sein. Sie hatten eine Menge verschiedener Namen. Einer davon war Langohren

Delano blieb abermals stehen. Diesmal sah er allerdings sehr viel erschrockener als verwirrt aus.»Und was schließen Sie daraus?«fragte er.

«Im Moment noch gar nichts«, antwortete Indiana.»Ich habe es mir abgewöhnt, voreilige Schlüsse zu ziehen. Ich beobachte und schaue zu, das ist alles. «Er ging weiter.»Aber wenn Ganty tatsächlich nichts weiter ist als ein versoffener alter Spinner, dann dürfen Sie mich ab morgen Adolf nennen.«

Sie hatten bereits die Stadt erreicht, und Indiana wandte sich dem Hotel zu. Aber plötzlich blieb Delano stehen, hielt Indiana an der Schulter zurück und legte gleichzeitig Zeige- und Mittelfinger der anderen Hand auf die Lippen. Indiana verstand. Rasch wich er in den Schatten eines Gebäudes zurück und blickte in die Richtung, in die Delanos ausgestreckte Hand zeigte.

Wie von jeder anderen Stelle der Stadt aus konnten sie den Hafen in ganzer Länge überblicken. Gantys Boot lag zwar am entgegengesetzten Ende des Hafens, aber an Bord der kleinen Yacht brannte Licht, so daß sie die Umrisse der beiden Gestal ten an Deck deutlich erkennen konnten. Eine davon war Ganty. Indiana hätte die untersetzte Gestalt mit den breiten Schultern und dem massigen Kopf selbst unter noch viel ungünstigeren Umständen erkannt. Die andere war schlanker, aber sehr groß. Neben Ganty wirkte sie wie ein Riese.

«Wer mag das sein?«flüsterte Delano.

Indiana zuckte nur mit den Schultern. Natürlich hatte er keine Ahnung, wer Gantys Gesprächspartner war, aber eines war ihm klar: daß Ganty sich bewußt hier draußen mit dem Fremden getroffen hatte, um nicht gesehen zu werden. Er hatte im Laufe der Jahre ein Gespür für so etwas entwickelt. Gantys Gestik war eindeutig die eines Menschen gewesen, der sich unbehag lich fühlt und Angst hat, beobachtet zu werden. Gesichter und Stimmen konnten lügen; die Körpersprache tat das selten.

«Warum sehen wir nicht nach?«schlug er vor.»Es ist eine schöne Nacht und warm genug für ein Bad.«

Delano blickte ihn fragend an, aber Indiana grinste nur noch einmal, wandte sich um und huschte geduckt zum Strand.

Das Wasser war nicht annähernd so warm, wie er geglaubt hatte, aber der Weg war auch nicht allzuweit. Beinahe lautlos schwamm Indiana auf Gantys Yacht zu, schlug einen Bogen und näherte sich dem Schiff von der offenen See her. Er konnte Ganty und seinen Gesprächspartner jetzt zwar nicht mehr sehen, dafür aber um so deutlicher hören.

Es nutzte nur nicht viel. Ganty und der andere redeten in einer Sprache miteinander, die er nicht verstand — und auch noch nie gehört hatte. Sie klang nicht einmal vertraut, obwohl es eigentlich kaum einen Dialekt gab, den Indiana nicht minde stens schon einmal gehört hatte und von dem er sagen konnte, in welche Ecke der Welt er gehörte.

Er lauschte einige Sekunden, dann schwamm er so vorsichtig wie möglich um das Boot herum, um in eine Position zu gelangen, aus der heraus er sowohl Ganty als auch seinen geheimnisvollen Besucher sehen konnte.

Ganty sah er nicht ganz, aber dafür war der Anblick des anderen Mannes um so erstaunlicher.

Sein Gesicht war nicht das breite, flachgedrückt-freundliche Antlitz des typischen Polynesiers, sondern es war schmal und hart, mit einem fast asketischen Zug, und der Unbekannte hatte auch nicht den typischen, untersetzten Körperbau der Insula ner, sondern war ein Riese von mindestens zwei Metern Größe; wahrscheinlich aber mehr. Seine enorme Größe ließ ihn überschlank erscheinen, aber das war er gar nicht, sondern er verfügte ganz im Gegenteil über geradezu ehrfurchtgebietende Muskelpakete an Schultern, Bizeps und Oberschenkeln. Er war nackt bis auf einen Lendenschurz und tropfnaß; offensichtlich war er auf einem ähnlichen Weg hierhergekommen wie Indiana.