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Und seine Ohrläppchen waren so lang, daß sie fast bis auf seine Schultern hinabhingen.

Der Anblick war so bizarr, daß Indiana die Bedeutung seiner anderen Beobachtung — nämlich der allmählich größer werden- den Pfütze, in der die Füße des Fremden standen — entschieden zu spät begriff. Hinter ihm plätscherte etwas, und plötzlich fühlte sich Indiana wie ein Kind unter den Armen gepackt und kurzerhand aus dem Wasser geworfen.

In hohem Bogen flog er auf den Landungssteg, überschlug sich zweimal und wäre um ein Haar auf der anderen Seite gleich wieder ins Wasser gestürzt, hätte er sich nicht im letzten Moment irgendwo festgeklammert. Unsicher und mit dröhnen dem Schädel setzte er sich auf und sah gerade noch etwas Dunkles wie einen riesigen Fisch im Wasser davongleiten; allerdings wie ein Fisch mit großen Händen, den Schultern eines Preisboxers und Ohrläppchen, die wie große Flossen im Wasser wehten. Verwirrt blickte er dem Schatten nach, bis er vollends verschwunden war, dann drehte er sich um — und blickte genau in die Mündung einer Pistole, die Ganty auf ihn richtete.

«Sie spionieren mir nach, Dr. Jones?«fragte Ganty.

Indiana stand ganz vorsichtig auf, bevor er antwortete, und Ganty schien nichts dagegen zu haben. Allerdings folgte der Lauf seiner Waffe jeder Bewegung von Indiana. Und er sah nicht so aus wie jemand, der Skrupel hat, die Waffe auch zu benutzen.

Von seinem unheimlichen Besucher war nichts mehr zu sehen.

«Das ist ein Mißverständnis, Mr. Ganty«, sagte Indiana hastig.»Ich spioniere Ihnen nicht nach. Ich — «

«Sie sind ganz zufällig hier vorbeigeschwommen, wie?«unterbrach ihn Ganty spöttisch.»Ich verstehe.«

Indianas Gedanken rasten. Er suchte verzweifelt nach irgend einer Ausrede, die auch nur halbwegs vernünftig klang oder wenigstens nicht völlig idiotisch. Er fand keine, und so breitete er schließlich mit einem verlegenen Lächeln die Hände aus.»Okay, Sie haben mich erwischt«, gestand er.»Ich habe Ihnen nachspioniert. Aber Sie haben uns auch das eine oder andere verschwiegen, nicht wahr?«Er machte eine Kopfbewegung zu jener Stelle an Deck des Schiffes, an der der Fremde gestanden hatte.»Wer sind Ihre geheimnisvollen Freunde, Mr. Ganty? Sie gehören zu den Langohren, nicht wahr?«

Gantys Gesichtsausdruck verdüsterte sich.»Sie haben sie gesehen?«

«Ich bin schließlich nicht blind«, antwortete Indiana.»Es ist also alles wahr, was man sich über Sie erzählt, Mr. Ganty. Bis auf die Behauptung, daß Sie verrückt sind. Wahrscheinlich haben Sie all die Jahre lauter über den Rest der Welt gelacht als dieser über Sie.«

Gantys Gesicht umwölkte sich noch mehr.»Sie haben sie wirklich gesehen«, sagte er.»Das ist nicht gut. Wirklich. Gar nicht gut.«

«Ich fürchte, Ihr kleines Geheimnis ist keines mehr«, antwor tete Indiana.

Ganty seufzte tief.»Glauben Sie mir, Dr. Jones, ich hasse es, das zu tun«, sagte er und schoß Indiana aus allernächster Nähe zwei Kugeln in den Leib.

Auf hoher See Sonnenaufgang

Eine der wenigen Erinnerungen, die Indiana an seine Mutter hatte, war das Gefühl einer warmen, zärtlichen Nähe und die Erinnerung daran, sanft in den Armen gehalten und geschau kelt zu werden, und vermutlich war es nur normal, daß genau dieses Gefühl ihn empfing, als er auf der anderen Seite jener Grenze ankam, die jeder Mensch irgendwann einmal über schreiten muß. Er sah nichts, aber er hörte ein gleichmäßiges, beruhigendes Rauschen und Wispern, und er fühlte sich gut und geborgen und wohltuend hin und her geschaukelt.

Doch dann versuchte er zu atmen, und ihm wurde auf ziem lich drastische Art und Weise klar, daß auch das Paradies seine kleinen Nachteile hat, denn ein so grausamer Schmerz schoß durch seine Brust, daß er mit einem Schmerzensschrei hoch fuhr.

Und gleich darauf wieder zurückfiel, denn der Himmel war nicht nur nicht frei von Schmerzen, sondern auch ziemlich klein; und er hatte eine Decke aus Eisen, an der sich Indiana sehr unsanft den Schädel gestoßen hatte.

Er stöhnte, hob vorsichtig die Hände an den Kopf und öffnete noch vorsichtiger die Augen. Jeder Atemzug tat entsetzlich weh, und wenn das der Himmel war, dann entsprach er ganz und gar nicht den Vorstellungen der Bibel oder auch des Korans oder irgendeiner anderen Religion, denn er war klein und dreckig und stank nach Schnaps und fauligem Fisch, und statt himmlischer Chöre hörte er das asthmatische Schnauben eines uralten Dieselmotors. Kein Zweifel — die Bibel hatte sich gründlich geirrt.

Es gab natürlich noch eine zweite Möglichkeit: nämlich die, daß er gar nicht tot war. Allerdings war dieser Gedanke beinahe ebenso unwahrscheinlich. Indiana erinnerte sich recht genau an alles, was passiert war. Und er hatte noch nie gehört, daß jemand zwei Bauchschüsse aus allernächster Nähe überlebt hätte.

So vorsichtig, wie er überhaupt konnte, versuchte er sich ein zweites Mal aufzusetzen, aber der Schmerz in seiner Brust war einfach zu stark. Er stöhnte gepreßt, öffnete mühsam Jacke und Hemd und sah an sich hinunter. Er hatte Angst vor dem, was er erblicken würde.

Nicht ganz zu Unrecht, wie sich herausstellte. Sein Bauch und seine gesamte rechte Seite schillerten in allen Farben des Regenbogens. Es war der gewaltigste Bluterguß, den er jemals zu Gesicht bekommen hatte.

«Ich an Ihrer Stelle würde mich nicht unnötig bewegen«, sagte eine Stimme irgendwo außerhalb seines Gesichtskreises.

«Tut nur unnötig weh.«

Indiana drehte den Kopf und erkannte Ganty, der auf der anderen Seite der winzigen Kajüte hockte und ihn kopfschüt telnd betrachtete.»Üble Sache«, sagte er mit einer Geste auf Indianas Brust.»Aber Sie sind ein zäher Bursche. In ein paar Tagen werden Sie sich schon wieder ganz normal bewegen können. Beinahe, jedenfalls.«

Er lachte, und dieses Lachen hätte Indiana eigentlich wütend machen sollen. Aber er war viel zu verwirrt, um mehr als einen fragenden Gesichtsausdruck zustande zu bringen. Wieder sah er an sich hinunter. Er sah nicht nur so aus, er fühlte sich auch, als hätte ihn ein Kamel getreten — aber seine Haut hatte nicht einmal einen Kratzer!

«Aber wie … wie ist das möglich?«

Ganty griff in die Jackentasche und zog eine Pistolenkugel heraus, die er vor Indianas ungläubig aufgerissenen Augen zwischen Daumen und Zeigefinger zerquetschte.»Zinn, Quecksilber und Wismuth«, erklärte er,»und gerade genug

Blei, daß sie nicht im Lauf auseinanderfliegt und mir die Hand wegreißt. Ich gieße die Dinger selber. Es hat eine Weile gedauert, bis ich die richtige Mischung heraus hatte.«

«Ich … verstehe überhaupt nichts mehr«, murmelte Indiana.

Er versuchte zum dritten Mal, sich aufzusetzen, und diesmal schaffte er es, wenn auch nur schwankend und mit zusammen gebissenen Zähnen.

Ganty nickte anerkennend.»Sie sind wirklich ein zäher Bursche, Dr. Jones«, sagte er. Mit einer fast beiläufigen Bewegung zog er die Pistole aus der Tasche, mit der er Indiana schon einmal niedergeschossen hatte, und fuhr fort:»Aber bitte versuchen Sie jetzt nicht, den Helden zu spielen.«

«Keine Sorge«, stöhnte Indiana.»Ich bin nicht einmal sicher, ob ich mich jemals wieder bewegen kann. Warum, zum Teufel, haben Sie das getan?«

«Wäre es Ihnen lieber, ich hätte echte Kugeln benutzt?«fragte Ganty lächelnd.