«Als was sie erwischt hat?«fragte Indiana.
Barlowe setzte zu einer Antwort an, aber im selben Moment erschienen Ganty und van Lees wieder an Deck, und Barlowe wandte sich den beiden zu. Er begann halblaut und schnell mit van Lees zu reden.
Indiana blickte wieder in den Nebel hinaus. Der Himmel über ihnen begann sich ganz allmählich aufzuhellen, aber der Nebel wurde immer dichter; Indiana schätzte die Sicht auf kaum zehn Meter. Aber Bell fuhr sehr langsam, und die Art, wie er das Boot lenkte, verriet, daß er sich hier auskannte. Schließlich hatten sie acht Monate Zeit gehabt, sich jede Einzelheit der Küste einzuprägen.
«Ich habe Ihnen vertraut, Dr. Jones«, sagte Ganty leise. Indiana drehte sich zu ihm um, aber Ganty sah ihn nicht an, sondern blickte weiter starr in den Nebel hinaus. Aber Indiana war sicher, daß er in den gleitenden grauen Wogen etwas ganz anderes sah als sie alle.»Aber Sie haben mich belogen. Sie sind auch nicht besser als die anderen. Ich dachte, Sie wären es, aber … Sie sind es nicht. Ihr seid alle gleich.«
«Dr. Ganty, ich — «
«Sparen Sie sich Ihre Lügen, Jones«, sagte Ganty bitter.»Ich will sie nicht hören.«
Indiana sprach tatsächlich nicht weiter. Es war nicht der passende Zeitpunkt, Ganty irgend etwas zu erklären; und vielleicht hatte der alte Mann von seinem Standpunkt aus sogar recht. Sie hatten fast einen ganzen Tag und eine Nacht mitein ander geredet, und Indiana hatte schon bald bemerkt, daß er den richtigen Moment verpaßt hatte, ihm zu erklären, warum er und Delano wirklich nach Pau-Pau gekommen waren.
Irgend etwas fuhr scharrend am Rumpf des Schiffes entlang.
Bell fluchte, drehte wie wild am Ruder, und die kleine Yacht vollführte einen spürbaren, plötzlichen Schwenk nach Back bord. Indiana griff hastig nach der Reling und hielt sich mit beiden Händen fest.
«Keine Sorge«, sagte Bell.»Wir sind durch. Ich habe mich ein bißchen verschätzt, aber es ist nichts passiert.«
«Durch?«Barlowe wirkte plötzlich noch angespannter als bisher.»Wir sind raus? Wir sind … auf offener See?«
Bell nickte.»Wir haben es geschafft«, bestätigte er.»Wenn ich in dieser Waschküche nicht aus Versehen in die falsche Richtung fahre, heißt das.«
«Ihr kommt hier nie raus«, sagte Ganty leise.»Ihr bringt euch um, ihr Narren.«
«Vielleicht«, antwortete Barlowe hart.»Aber wenn, dann fahren wir zusammen zur Hölle, Mister. «Seine Hand schloß sich so fest um den Schaft des Bambusspeeres, daß seine Knöchel knackten.»Ich hätte gute Lust, Ihnen so oder so die Kehle durchzuschneiden. Vielleicht tue ich es ja noch.«
Ganty sah ihn nur an, aber Indiana machte trotzdem einen Schritt und trat zwischen ihn und Barlowe, um den Blickkon takt zwischen den beiden zu unterbrechen. Für eine Sekunde schien es, als würde sich Barlowes Zorn nun auf ihn konzen trieren.
«He!«sagte van Lees plötzlich.»Hört auf!«Er hob warnend die Hand und lauschte eine Sekunde mit geschlossenen Augen.
«Da ist irgendwas!«
Als hätte es nur dieser Worte bedurft, hörte Indiana es plötz lich auch: ein noch leises, aber näher kommendes Plätschern, das er zwar im allerersten Moment nicht einordnen konnte, aber trotzdem zu kennen glaubte. Es war kein gutes Geräusch.
«Die Wilden!«schrie Barlowe plötzlich.»Das sind sie! Bell, gib Gas!«
Das Tuckern des Dieselmotors wurde geringfügig lauter, aber das Boot glitt weiter behäbig wie ein Spaziergänger durch die Wellen.»Es geht nicht!«schrie Bell.»Der alte Kahn gibt nicht mehr her!«In seiner Stimme lag Panik.»Verdammt, Barlowe, tu etwas!«
Das Plätschern kam näher, teilte und vervielfältigte sich, und plötzlich war der Nebel nicht mehr voller eingebildeter, sondern wirklicher Bewegung. Ein halbes Dutzend langge streckter, dunkler Schatten bewegte sich aus ebenso vielen Richtungen auf die Yacht zu, und irgend etwas fuhr mit einem boshaften Sirren kaum eine Handbreit an Indianas Gesicht vorbei und zerschmetterte die Scheibe des Ruderhauses.
Indiana versetzte Ganty einen Stoß, der ihn der Länge nach auf das Deck warf, wich in derselben Bewegung einem zweiten Pfeil aus und versuchte gleichzeitig, die Peitsche vom Gürtel zu lösen. Er hörte einen Schrei hinter sich. Glas klirrte. Laut prallte etwas gegen den Rumpf der Yacht, und plötzlich wuchsen zwei riesenhafte Gestalten am Heck des Schiffes in die Höhe.
Barlowe hob seinen Speer, aber van Lees war schneller. Die Pistole, die er Ganty abgenommen hatte, entlud sich mit einem peitschenden Knall, und einer der Schatten taumelte mit einer fast grotesken Bewegung zurück und verschwand im Nebel.
Indiana ließ seine Peitsche knallen, und auch der zweite Polynesier stürzte wieder über Bord. Barlowe sah ihn über rascht an, öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber in derselben Sekunde zischte ein weiterer Pfeil aus dem Nebel heran und durchbohrte seine Schulter. Mit einem gellenden Schrei stürzte er zu Boden.
Und das war erst der Anfang.
Indiana hatte schon manchen Kampf erlebt — aber noch nie eine Situation, die annähernd so aussichtslos war. Das sonder bare Geräusch, das er gehört hatte, wiederholte sich ein halbes Dutzend Male, als fünf oder sechs der kleinen Schilfboote, mit denen die Polynesier gekommen waren, gleichzeitig gegen die Yacht stießen, und plötzlich wimmelte das Deck von hünenhaf ten, finsteren Gestalten.
Van Lees schoß einen weiteren Polynesier nieder, ehe er unter einem Keulenhieb zu Boden ging, und auch Indiana wehrte sich mit der Kraft der Verzweiflung. Er stieß einen der Angreifer über Bord, fegte mit einem weit ausholenden Peitschenhieb gleich drei Langohren gleichzeitig von den Füßen und wäre um ein Haar selbst gestürzt, als ein vierter Polynesier nach der Peitsche griff und sie ihm mit einem harten Ruck aus den Händen riß.
Indiana taumelte gegen die Wand des Ruderhauses, sah eine Bewegung aus den Augenwinkeln und warf sich instinktiv zur Seite. Eine steinerne Axt zerschmetterte das Holz neben seinem Kopf. Indiana riß die Arme hoch, schlug dem Polyne-sier die Waffe aus der Hand und krümmte sich im selben Moment vor Schmerz, als ihm ein furchtbarer Fausthieb die Luft aus den Lungen trieb. Vor seinen Augen explodierten bunte Sterne. Er rang verzweifelt nach Luft, aber er bekam keine, denn die Hände des Eingeborenen hatten sich wie Stahlklammern um seinen Hals gelegt und drückten mit unbarmherziger Kraft zu.
Indiana bäumte sich auf, zerrte mit aller Gewalt an den Handgelenken des Burschen und rammte ihm das Knie zwischen die Oberschenkel. Der Polynesier keuchte, aber sein Griff lockerte sich nicht.
Indianas Lungen schrien nach Luft. Er wollte ein zweites Mal zutreten, aber er hatte nicht mehr die Kraft dazu. Das Gesicht des Angreifers begann vor seinen Augen zu verschwimmen.
Ein Schuß krachte. Der tödliche Würgegriff um seinen Hals lockerte sich, und das Gesicht vor ihm war plötzlich kein Gesicht mehr, sondern rot und zerstört, und dann kippte der Polynesier stocksteif und lautlos nach hinten.
Ein zweiter Schuß fiel. Indiana hörte, wie die Kugel irgendwo ganz in seiner Nähe splitternd ins Holz fuhr, und noch während er auf die Knie sank und würgend und qualvoll nach Atem rang, krachte dicht hintereinander eine ganze Salve peitschen der Gewehrschüsse.
Ein grelles Licht blendete Indiana. Er hob die Hand vor das Gesicht, blinzelte in die gleißende Helligkeit des Scheinwerfer strahles, der wie ein Messer durch den Nebel und in seine Netzhäute schnitt, und erkannte einen riesigen, dunklen Schatten, der dahinter im Nebel heranwuchs. Orangerotes Mündungsfeuer blitzte auf, und zwei, drei weitere Polynesier stürzten getroffen zu Boden oder über Bord.
Der Kampf war so schnell vorbei, wie er begonnen hatte, und es war kein wirklicher Kampf, es war ein Gemetzel. Wer immer die Angreifer waren, sie schossen mit unglaublicher Präzision, und sie kannten keine Gnade. Kaum einer der Polynesier, die die Yacht geentert hatten, entging ihrem Feuer. Und die wenigen, die es schafften, sich mit einem beherzten Sprung über die Reling zu retten, starben im Wasser.