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Der Anblick war zuviel. Schwäche, Erschöpfung und Furcht forderten ihren Tribut.

Indiana verlor das Bewußtsein.

Etwas Kühles, Feuchtes strich über sein Gesicht, als er wider Erwarten das Bewußtsein zurückerlangte. Die Berührung tat sehr wohl, denn sein Gesicht brannte, als hätte ihm jemand die Haut abgezogen. Er fühlte sich benommen, und er spürte, daß viel Zeit verstrichen war. Seine Kleider waren getrocknet, und er lag auf einem Lager, das zugleich hart wie weich zu sein schien. Etwas stach in seinen Nacken: Stroh.

«Ich glaube, er ist wach«, sagte eine Stimme. Eigentlich war es eher ein Piepsen, eine Stimme, die gut zu einem blonden Dummchen aus einem Humphrey-Bogart-Film gepaßt hätte.

Das Gesicht übrigens auch, das Indiana über sich sah, als er die Augen aufschlug.

«Er wacht auf«, sagte Blondie, blinzelte und fügte hinzu:»Glaube ich.«

Schritte, dann verschwand das Gesicht aus seinem Blickfeld, und einen Augenblick später erschienen die Züge von Ganty über ihm. Jedenfalls vermutete Indiana, daß es einmal Gantys Gesicht gewesen war — bevor jemand versucht hatte, es zu kochen und ihm Augenbrauen, Wimpern und einen Gutteil des Haupthaares abgesengt hatte.

«Ganty!«sagte Indiana erschrocken.»Wie … wie sehen Sie denn aus?«

«Genau wie Sie, Dr. Jones«, antwortete Ganty.»Wir haben noch einmal Glück gehabt.«

«Glück?«Indiana setzte sich auf und hob vorsichtig die Hand ans Gesicht. Schon die geringste Berührung tat weh.

Ganty nickte.»Die meisten Ihrer Nazi-Freunde hat es schlimmer erwischt.«

«Sie sind nicht meine Freunde«, knurrte Indiana. Er schwang die Beine von der Liege und sah sich um. Sie befanden sich in einer kleinen, fensterlosen Kammer, deren Wände aus Stein quadern zusammengefügt worden waren, von denen jeder eine Tonne wiegen mußte. Außer Ganty und der Blondine hielt sich noch ein bärtiger Mann in abgerissener Kleidung in der Kammer auf, der Indiana schweigend, aber sehr aufmerksam musterte und eine unübersehbare Ähnlichkeit mit van Lees hatte.

Indiana nahm an, daß es sich um dessen Bruder handelte, von dem Barlowe gesprochen hatte.

«Ich weiß, Dr. Jones«, sagte Ganty.»Hätte ich irgend etwas anderes angenommen, dann wären Sie jetzt tot. «Er grinste, als Indiana sich herumdrehte und ihn zornig ansah.»Immerhin kann man sich jetzt mit gutem Gewissen mit Ihrem Vornamen vertun, Dr. Jones«, sagte er.»Sie sehen wirklich aus wie eine Rothaut.«

«Was ist passiert?«fragte Indiana.»Dieses rote Licht … was war das?«

Ganty grinste wieder, aber eigentlich war es kein richtiges Lächeln, sondern eher ein Zähnefletschen.»Die nordische Herrenrasse ist auf eine Macht gestoßen, die ihr ebenbürtig ist, das ist passiert«, sagte er.

«Ja. Und zwar in jeder Beziehung, nicht wahr?«gab Indiana zurück.

Gantys Lächeln erlosch. Er hatte genau verstanden, wie Indianas Worte gemeint waren, aber er enthielt sich jeden Kommentars, und auch Indiana führte den sinnlosen Disput nicht fort. Statt dessen machte er eine weit ausholende Geste und fragte:»Wo sind wir?«

«Bei den Vogelmenschen«, antwortete van Lees an Gantys Stelle. Mit einem abfälligen Blick in Gantys Richtung fügte er hinzu:»Seinen Freunden. Sie haben uns alle gefangengenom men, bis auf meinen Bruder, Bell und Nancys Mann. Den Holländer haben sie umgebracht.«

Indiana wandte sich wieder der jungen Frau zu. Er fühlte sich plötzlich befangen, obwohl er Barlowe kaum gekannt hatte.

«Es tut mir leid, Nancy«, sagte er.»Aber ich fürchte, Ihr Mann — «

«Er lebt«, fiel ihm Ganty ins Wort.»Und der Australier auch. Sie sind nebenan, bei den anderen.«

Indiana sah ihn zweifelnd an. Das Bild des verkohlten, ausge glühten Schiffswracks stand noch deutlich vor seinen Augen.

Die Vorstellung, daß irgend jemand in diesem Schiff das Inferno überlebt haben sollte, war schwer zu akzeptieren.

«Er sagt die Wahrheit, Dr. Jones«, piepste Nancy, der India nas zweifelnder Blick nicht entgangen war.»Ich habe bereits mit ihm gesprochen. Sie sind ein bißchen angekratzt, aber wohlauf.«

«Die Frage ist nur, wie lange das so bleibt«, fügte van Lees düster hinzu.»Wir haben bald wieder Vollmond.«

Ganty schwieg dazu, aber auf seinem Gesicht erschien ein neuer, finsterer Ausdruck, und auch Indiana hatte plötzlich ein sehr ungutes Gefühl.

«Wieso Vollmond?«fragte er.

Van Lees grinste, aber es war ein Lächeln, dem jegliche Spur von Humor fehlte.»Gantys Freunde sind ein lustiges Völk chen«, sagte er.»Sie feiern bei Vollmond immer ein Fest mit einem großen Essen als Höhepunkt. Das letzte Mal haben sie den Holländer eingeladen. Er war die Hauptmahlzeit. Wahr scheinlich werden sie uns der Reihe nach alle auffressen.«

«Ist das wahr?«fragte Indiana, an Ganty gewandt.

Ganty druckste einen Moment herum.»Sie … sie sind keine richtigen Kannibalen«, sagte er schließlich.»Sie töten nur zu zeremoniellen Anlässen.«

«Zum Beispiel, um einen großen Sieg zu feiern«, fügte van Lees hinzu.

Ganty wollte auffahren, aber Indiana brachte ihn mit einer energischen Geste zum Schweigen.»Diese Streiterei nutzt niemandem etwas«, sagte er.»Versuchen wir lieber herauszu finden, wo wir hier sind, und vor allem, wie wir hier wegkom men.«

Van Lees starrte ihn an, als zweifle er ernsthaft an seinem Verstand, und auch Nancy seufzte nur. Ganty zog eine Grimasse.

«Habe ich irgend etwas Falsches gesagt?«fragte Indiana.

Anstelle einer direkten Antwort wandte sich van Lees um und winkte.»Kommen Sie, Dr. Jones.«

Sie verließen die Kammer und traten auf einen schmalen Gang hinaus, dessen Decke und rechte Wand ebenfalls aus zyklopischen Felsquadern bestanden. Die andere Wand und der Boden bestanden aus Lava, und als Indiana sie berührte, fiel ihm auf, daß sie warm war. Nicht heiß, aber viel wärmer, als sie hätte sein dürfen.

Obwohl hier draußen keine Fackel brannte, war der Gang von rotem Licht erfüllt. Die Luft war stickig, und ein Geruch wie von brennendem Fels lag darin. Van Lees deutete nach rechts. In einer Entfernung von vielleicht zwanzig Schritten lag eine schmale, rechteckige Tür, die von flackerndem roten Licht erfüllt war. Indiana suchte vergeblich nach einer Wache oder irgendeinem anderen Anzeichen der Langohren; oder der Vogelmenschen, wie van Lees sie genannt hatte.

Als sie den Ausgang erreichten, begriff er auch, warum.

Die Tür führte ins Freie, aber nicht in die Freiheit.

Vor ihnen lagen drei breite, ausgetretene Steinstufen, und dahinter ging es mindestens zwanzig Meter senkrecht in die Tiefe. Als Indiana sich vorbeugte, schlug ihm ein Hauch kochendheißer Luft ins Gesicht. Unter ihm brodelte die hellrote Lava eines Vulkankraters. Das Gebäude, in dem sie sich befanden, war zur Hälfte in die Lava des Vulkans hineinge meißelt worden, zur anderen wie ein steinernes Schwalbennest an den steil abfallenden Hang angeklebt. Es war ein beeindruk-kender Anblick. Indiana wäre vermutlich noch viel beeindruck ter gewesen, hätte es einen Weg gegeben, von hier fortzukommen.

Aber es gab keinen. Die Treppe endete im Nichts, und die Wände, die in einem Winkel von gut fünfundvierzig Grad zum kochenden Herzen des Vulkans hinabführten, waren spiegel glatt. Eine Flucht war unmöglich.

Aber dieser Vulkan war eigentlich auch unmöglich. Indiana hatte die Silhouette der Insel noch deutlich vor Augen. Da war kein Berg gewesen, nicht einmal ein Hügel.

«Sie stehen da wie ein Mann, der sich dasselbe fragt wie ich, als ich zum ersten Mal hier war«, sagte eine Stimme hinter ihm.

Indiana drehte sich herum. Neben van Lees war eine zweite Gestalt erschienen, die Indiana abschätzend, aber nicht un freundlich ansah.

«Der Vulkankrater liegt unterhalb des Meeresspiegels«, fuhr der Fremde fort und streckte Indiana die Hand entgegen.»Mein Name ist Jonas. Und Sie müssen mein Beinahenamensvetter sein. Dr. Jones, nehme ich an.«