Indiana ergriff Jonas’ ausgestreckte Rechte und schüttelte sie.»Indiana«, sagte er.»Ich glaube, in Anbetracht der Umstände ist es leichter, wenn wir uns auf Indiana einigen. Indy, für meine Freunde.«
Jonas lachte.»Indy, gut. Ich nehme an, van Lees hat Ihnen schon alles gezeigt?«
«Nur diesen Krater und den Gang, aber — «
«Viel mehr gibt es hier auch nicht zu sehen«, seufzte Jonas.
«Und leider auch nicht zu erzählen. Sie haben uns einen nach dem anderen geschnappt, und seitdem sitzen wir hier. Das ist im Prinzip auch schon alles.«
«Das glaube ich nicht«, antwortete Indiana. Er warf einen verstohlenen Blick in van Lees Richtung, aber Jonas winkte ab.
«Diese Geheimniskrämerei ist nicht nötig, Indy«, sagte er.
«Delano hat uns alles erzählt. Wir wissen alle, warum Sie wirklich hier sind. Ich muß Sie enttäuschen. Ich habe die Pläne nicht mehr. Sie waren an Bord des Flugzeuges. Wenn Sie sie nicht gefunden haben, nehme ich an, daß sie vernichtet wurden.«
«Delano lebt?«fragte Indiana überrascht.
«Mehr oder weniger«, antwortete Jonas.»Kommen Sie — ich bringe Sie zu ihm.«
Sie kehrten ins Innere des Gebäudes zurück, gingen aber an der Tür der Kammer vorbei, in der Indiana aufgewacht war.
Indiana sah, daß sich der Gang noch ein gutes Stück an der Kraterwand entlangzog, wobei er ihrer Krümmung folgte, und daß es eine ganze Anzahl gleichartiger, kleiner Kammern zu geben schien.
Ganty und er waren nicht die einzigen, die das Inferno am Strand überstanden hatten. Indiana blickte in jede Kammer, an der sie vorüberkamen, und zählte nach und nach an die zwei Dutzend SS-Soldaten, die meisten in angesengten Uniformen und mit mehr oder weniger schweren Brandwunden.
In der letzten Kammer fanden sie Delano, Barlowe und die beiden Australier. Barlowe trug den verletzten Arm in der Schlinge und begrüßte Indiana mit einem Nicken, während van Lees ihn unter einem dicken Stirnverband hervor so feindselig anstarrte, als wäre alles, was ihnen zugestoßen war, ganz allein Indianas Schuld.
Delano saß vornübergebeugt auf einem niedrigen, strohge deckten Lager wie jenem, auf dem auch Indiana erwacht war.
Seine Uniform war verkohlt und hing in Fetzen, und seine Hände und Arme waren bis zu den Ellbogen hinauf bandagiert.
Seine linke Gesichtshälfte war übel verbrannt.
Das Schlimmste aber waren seine Augen. Plötzlich glaubte Indiana noch einmal Gantys Stimme zu hören, wie er ihn voller Panik anschrie, er solle nicht hinsehen. Jetzt wußte er auch, warum.
«Delano?«fragte Indiana zögernd.
Der SS-Offizier hob den Kopf. Sein Blick ging in die Rich tung, aus der er Indianas Stimme vernommen hatte, aber er blieb leer.
Es waren die Augen eines Blinden, in die Indiana sah.»Jones.
Sind … sind Sie das?«
Indiana nickte. Erst eine Sekunde danach wurde ihm klar, daß Delano die Bewegung gar nicht sehen konnte, und er sagte laut:»Ja.«
«Sie sind am Leben«, murmelte Delano.»Und unverletzt.«
«Beinahe, jedenfalls«, antwortete Indiana.»Ein paar Kratzer, das ist alles.«
«Gut«, murmelte Delano.»Das ist … gut. Sie müssen uns hier herausholen, Jones. Sie müssen verhindern, daß … daß jemand sie bekommt.«
«Sie?«
«Die Waffe. Dieses … dieses schreckliche Licht. Niemand … niemand darf sie bekommen, hören Sie? Sie nicht, und wir nicht. Zerstören Sie sie, Jones! Jemand muß sie zerstören!«
Er begann zu stammeln. Seine Schultern sackten wieder nach vorn, und aus seinen Worten wurden sinnlose Laute. Indiana mußte ihn nicht berühren, um zu wissen, daß er hohes Fieber hatte. Daß er in dieser Verfassung überhaupt die Kraft aufge bracht hatte, sich aufzusetzen und zu reden, grenzte an ein Wunder.
«Glauben Sie, daß er das ernst meint?«fragte Jonas.»Er phantasiert.«
«Ich wollte, alle Menschen auf der Welt würden so phantasie ren«, murmelte Indiana. Aber die Worte galten nur ihm selbst. Lauter fügte er hinzu:»Auf jeden Fall müssen wir hier heraus — bevor seine Leute anfangen, sich Gedanken zu machen, wo er abgeblieben ist, und nach ihm suchen.«
«Oder unsere?«
Indiana sah Jonas lange und sehr nachdenklich an. Es war absurd — aber für einen Moment war er nicht mehr sicher, wer hier eigentlich sein Feind war und wer nicht.
Jemand betrat die Kammer, und Indiana schrak aus seinen Gedanken hoch.
Es war Ganty. Er streifte Delano nur mit einem flüchtigen, fast verächtlichen Blick, dann wandte er sich an Indiana.»Sie wollen Sie sehen.«
«Ihre Freunde?«
Ganty schwieg eine Sekunde, und Jonas sagte spöttisch:»Sie bohren in einer offenen Wunde, Indy. Ich fürchte, sie sind nicht länger seine Freunde.«
«Ist das wahr?«
«Irgend etwas … hat sich verändert«, gestand Ganty wider willig.»Ich weiß auch nicht genau, was es ist. Ich spreche nur ein paar Worte ihrer Sprache. «Er machte plötzlich eine ungeduldige Handbewegung.»Kommen Sie. Sie wollen Sie sehen.
Und ihn — «, er deutete verächtlich auf Delano,»— auch.«
Sie mußten Delano stützen, als sie die Kammer verließen, und Indiana war nicht sicher, ob der SS-Offizier überhaupt noch mitbekam, was mit ihm geschah. Er hatte hohes Fieber, und Indiana war nicht wohl bei dem Gedanken, ihn nach draußen zu schaffen. Es konnte gut sein, daß sie ihn damit umbrachten.
Vier Langohren erwarteten sie vor dem Ausgang. Drei waren so gekleidet, wie Indiana die unheimlichen Krieger kannte — nämlich gar nicht, nur mit einem winzigen Lendenschurz und einem bunten Lederband um die Hüften —, aber der vierte trug einen prachtvollen Federmantel und dazu einen Kopfschmuck, der jeden Sioux-Häuptling vor Neid hätte erblassen lassen.
Plötzlich verstand Indiana, warum Jonas und die anderen die Eingeborenen Vogelmenschen genannt hatten. Der Polynesier sah wirklich aus wie ein großer, tödlich bunter Vogel.
Ganty wechselte ein paar Worte mit den Eingeborenen, und der Polynesier mit dem Federmantel machte eine herrische Geste. Indiana verstand die Worte nicht, aber der Ausdruck auf Gantys Gesicht wurde noch verbissener. Jonas’ Bemerkung schien der Wahrheit ziemlich nahe gekommen zu sein.
Über der im Nichts endenden Treppe hing jetzt ein großer Korb aus Bambus und geflochtenem Stroh. Die Konstruktion machte auf Indiana nicht den Eindruck, als ob sie das Gewicht von sieben Menschen tragen könnte, aber ihre Bewacher scheuchten sie, ohne zu zögern, hinein und folgten ihnen. Indiana spürte, wie der Korb unter ihrem Gewicht ächzte. Für eine Sekunde war er felsenfest davon überzeugt, daß das Seil einfach reißen würde und sie in die Tiefe stürzen müßten. Aber der Korb hielt. Knirschend und auf bedrohliche Weise hin und her schaukelnd entfernte er sich von der Treppe und begann gleichzeitig in die Höhe zu steigen. Indiana legte den Kopf in den Nacken und erkannte, daß er an einer Art Kran hing, der sie in einem weiten Bogen über das glühende Herz des Vulkans auf einen zweiten, viel größeren Tunneleingang zuschwenkte.
Eingang und Kran waren beide nicht die einzigen ihrer Art.
Dicht unterhalb des Kraterrandes ragten Dutzende unter schiedlich großer, bizarrer Gebilde aus Holz und Bast in die Luft, und es gab so viele Stolleneingänge und auf den Hang aufgesetzte, gemauerte Eingänge und Wände, daß das Innere der Kraterwände so löcherig sein mußte wie ein Schweizer Käse. Es war eine Stadt in einem Vulkan.
Die Hitze, die von dem brodelnden Magma unter ihnen ausging, war beinahe unerträglich. Indiana bekam kaum noch Luft, und Delano sackte vollends zwischen ihm und Ganty zusammen und begann zu stöhnen. Auf den Gesichtern der vier Polynesier erschien nicht einmal ein Schweißtröpfchen.
Der Korb erreichte auf den Zentimeter genau den Eingang, auf den sie gezielt hatten, und sie stiegen aus. Andere Eingebo rene kamen ihnen entgegen, viele davon in die prachtvollen Federumhänge gekleidet, und einige mit großen, roten Hüten, die wie zu lang geratene Zylinder aussahen und einigermaßen lächerlich wirkten.