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«Nach Ablauf dieser Frist schickt er einen Landungstrupp, Jones. Bewaffnete Männer. Viele Männer. Sie … sie werden sterben wie meine Soldaten. Sie müssen sie warnen. Ein … Signal. Geben Sie … das Signal. Dreimal kurz, viermal lang, einmal kurz. Dann … wissen sie, daß sie … erwartet werden und sind … vorsichtig. Drei, vier … eins. Das … Signal, Jones!«

Und damit starb er.

Es war ganz undramatisch. Kein Aufbäumen, keine Agonie — er hörte einfach auf zu atmen, das war alles, und Indiana streckte behutsam die Hand aus und schloß seine Augen.

Länger als eine Stunde saß Indiana neben dem toten Soldaten, ohne sich zu rühren, ohne ein Wort zu sagen, ohne zu reagieren, wenn einer der anderen hereinkam und ihn ansprach. Dann wußte er, was er tun konnte.

Am darauffolgenden Morgen ließ Sandstein ihn wieder zu sich kommen. Wie er Delano (Delano? Er wußte nicht einmal seinen wirklichen Namen, und dieser Gedanke erfüllte ihn mit einem absurden Gefühl von Schuld) versprochen hatte, hatte er keinem der anderen etwas von ihrer letzten Unterhaltung erzählt, sondern sich am Abend mit scheinbarer Begeisterung daran beteiligt, einen Fluchtplan nach dem anderen zu ersinnen und als aussichtslos wieder zu verwerfen. Gleichzeitig und nur für sich selbst war er jedoch damit beschäftigt gewesen, einen noch viel aussichtsloseren Plan zu entwickeln; eine Idee, die so verrückt war, daß sie im Grunde nur in einer Katastrophe enden konnte.

Aber vielleicht würde sie ja gerade deshalb funktionieren.

Sandstein erwartete ihn nicht in ihrer» Bibliothek«, sondern in dem barbarischen Thronsaal, in dem er ihr das erste Mal begegnet war. Eine Anzahl ihrer Krieger umringte sie, gewalti ge, breitschultrige Gestalten, die die kleinwüchsige Lady fast um das Doppelte überragten, einige sogar, obwohl sie vor ihr knieten. Indiana konnte nicht genau erkennen, was sie taten, aber es schien sich um eine Art Zeremonie zu handeln, denn er hörte einen monotonen, an- und abschwellenden Singsang, dessen Rhythmus etwas ungemein Beunruhigendes und Düsteres hatte. Das flackernde rote Licht einer Fackel verlieh der Szenerie zusätzlich etwas gleichermaßen Unwirkliches wie Alptraumhaftes. Sandstein trug auch jetzt wieder einen prachtvollen Mantel aus Federn, der ihre Gestalt von Kopf bis Fuß verhüllte, aber er war nicht bunt, sondern von blutroter Farbe. Indianas Schritte wurden unwillkürlich langsamer, als er sich der Gruppe näherte. Hätten es seine Bewacher zugelassen, wäre er stehengeblieben.

Als Sandstein seine Anwesenheit bemerkte, hielt sie in ihrem Singsang inne, und auch die Polynesier verstummten nach und nach. Etwas von der unheimlichen Atmosphäre der Szene schien zu verschwinden, als die düsteren Töne verstummten.

Etwas, nicht alles.

«Fräulein Adele!«sagte Indiana mit erzwungener Fröhlich keit.»Schön, Sie — «

Ein Blitzen in Sandsteins Augen hielt ihn ab, weiterzuspre chen. Sandstein starrte ihn durchdringend an, und erst jetzt wurde Indiana klar, daß der Ursprung des flackernden roten Lichtes gar keine Fackel war.

Es war der rote Kristall. Er lag in einer flachen, steinernen Schale, die Sandstein in beiden Händen hielt, und wieder fiel Indiana auf, wie sehr sein Flackern dem Schlagen eines Herzens ähnelte.

Adele Sandsteins Herzens.

An ihrem mageren, faltigen Hals pulsierte eine Ader. Und sie pochte im gleichen Rhythmus, in dem das rote Licht heller und dunkler wurde. War sie es, die diesem Stein seinen Takt aufzwang — oder waren es die dunklen, mystischen Mächte des Kristalls, die längst Gewalt über die Person erlangt hatten, die einmal Adele Sandstein gewesen war?

Indiana fürchtete sich fast vor der Antwort auf diese Frage, aber dann blickte er noch einmal in ihre Augen, und er wußte im selben Moment, daß er nicht mehr Adele Sandstein gegenü berstand, sondern der Mi-Pao-Lo, der düsteren, unsterblichen Göttin der Vogelmenschen. In diesem Punkt hatte die Prophe zeiung gelogen. Sie hatte nicht erst über das Meer kommen müssen. Sie war all die Jahrhunderte über hier gewesen. Alles, worauf sie gewartet hatte, war ein Körper, dessen sie sich bedienen konnte.

Einer plötzlichen Eingebung folgend, senkte er das Haupt und sagte in demütigem Ton:»Sie haben mich rufen lassen, Mi-Pao-Lo.«

Vielleicht hatte er ein wenig zu dick aufgetragen, denn als er wieder aufsah, wirkte Sandstein keineswegs zufrieden, sondern eher mißtrauisch. Sekundenlang starrte sie ihn schweigend an, dann scheuchte sie die vor ihr knienden Langohren mit einer unwilligen Geste davon und kam auf ihn zu. Sie starrte ihn weiter an, und obwohl Indiana sie weit überragte und sie den Kopf in den Nacken legen mußte, um ihm in die Augen sehen zu können, war er es, der sich nach Sekunden plötzlich klein und vollkommen hilflos fühlte. Er hatte das Gefühl, von einer körperlichen Last befreit zu werden, als sich ihr Anblick endlich wieder von ihm löste.

«Sie hatten Zeit, über unser Gespräch nachzudenken«, sagte sie.»Können Sie die Aufgabe lösen?«

Indiana überlegte sich seine Worte sehr gründlich. Sandstein war vielleicht verrückt, aber sie war deswegen nicht dumm.

«Ich werde es versuchen«, sagte er.»Die Zeit ist nicht sehr lang, aber ich glaube, ich habe eine gute Chance.«

«Das will ich hoffen, Jones«, sagte Sandstein (Sandstein? Nein: die Mi-Pao-Lo) ernst.»Um Ihret- und all der anderen Narren dort draußen willen.«

Indiana fragte sich, wen sie damit wohl gemeint haben moch te — Jonas und die anderen Gefangenen oder den gesamten Rest der Welt —, aber Sandstein fuhr bereits fort:»Sie können gleich mit der Arbeit beginnen, Jones. Doch zuvor möchte ich, daß Sie etwas sehen.«

Sie drehte sich mit einem Ruck um und ging zur anderen Seite des Raumes, und Indiana wurde von den Langohren hinter ihr hergestoßen, obgleich er ihr auch freiwillig gefolgt wäre. Er hatte schon lange aufgehört, sich über das Verhalten der Vogelmenschen zu wundern. Ganty hatte ihm erklärt, daß sie ein stolzes, unnahbares Volk wären, aber die Legenden der Osterinsel und das, was Indiana selbst erlebte, behaupteten etwas anderes. Sie verachteten jeden, der nicht zu ihnen gehörte. Wahrscheinlich waren er und die anderen Gefangenen in ihren Augen nicht einmal Menschen, sondern nur aufrecht gehende, sprechende Tiere.

Sandstein nahm nicht auf dem gewaltigen Thronsessel Platz, wie er erwartet hatte, sondern steuerte auf eine der schwarzen Kopfstatuen zu, die einen doppelten Ring um das Zentrum der Höhle bildeten. Die Figur war etwas kleiner als die anderen, trotzdem aber noch immer ein Koloß von mehr als drei Metern Höhe, der mindestens zehn Tonnen wiegen mußte. Und es gab noch zwei weitere Punkte, in denen sich diese von den übrigen Statuen unterschied: statt aus schwarzem Fels bestanden ihre Augen aus einem roten Kristall, der zu Tausenden von winzi gen, schimmernden Facetten geschliffen war. Und sie bewegte sich.

Im allerersten Moment hatte Indiana den ebenso absurden wie erschreckenden Eindruck, daß der steinerne Koloß sich tatsächlich aus eigener Kraft bewegte. Aber natürlich stimmte das nicht. In Wahrheit stand er auf einer hölzernen Plattform, die über ein einfaches, aber höchst wirkungsvolles System von Rollen und Hebeln von einem halben Dutzend Polynesier gelenkt und sichtlich ohne allzu große Anstrengung von der Stelle bewegt werden konnte. Es war die Figur, die er unten am Strand gesehen hatte.

«Kommen Sie, Dr. Jones!«Sandstein zeigte mit einer befeh lenden Geste auf ihre linke Seite, und Indiana beeilte sich, der Aufforderung Folge zu leisten, ehe einer seiner Bewacher dem Befehl mit einem Stoß Nachdruck verleihen würde, so daß er den Weg womöglich auf dem Gesicht über die Lava schlitternd zurücklegen mußte.

«Was haben Sie vor?«fragte er nervös.