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Am Abend des dritten Tages kam Sandstein noch einmal zu ihm. Sie trug ein prachtvolles Gewand aus Federn, buntem Stoff und Lederschnüren, und dazu einen barbarischen Schmuck aus vielfarbigen Korallen und Kristallen, der alles in allem einen Zentner wiegen mußte und sie zu einem mühsamen Schlurfen zwang. Unter all der barbarischen Pracht war Adele Sandstein kaum noch zu sehen. Zumindest war sie in diesem Moment sie selbst, wie Indiana nach einem einzigen Blick in ihr Gesicht erkannte. Sie wirkte unendlich müde und alt. In den acht Tagen, die Indiana sie nun kannte, schien sie um minde stens ebenso viele Jahre gealtert zu sein, und in ihren Augen stand ein Ausdruck unendlich tiefer Verzweiflung.

«Haben Sie es geschafft, Dr. Jones?«fragte sie müde.

Indiana ließ seinen Blick einige Sekunden lang über die komplizierten Linien und Strichmuster auf der Wand gleiten, die ihm jetzt so wenig sagten wie im allerersten Moment. Eine kurze Zeit hatte er tatsächlich versucht, sie zu entziffern, aber er hatte nicht den kleinsten Ansatzpunkt gefunden. Es gab einfach kein System in diesem Durcheinander. Indiana war mittlerweile nicht einmal mehr sicher, daß es sich überhaupt um eine Schrift handelte.

Trotzdem nickte er mit gewichtigem Gesicht.»Ich glaube ja«, sagte er.»Es war schwer, aber ich denke, ich habe es ge schafft.«

«Ich hoffe es, Dr. Jones«, flüsterte Sandstein. Ihre Stimme klang so müde, wie ihr Gesicht aussah, aber Indiana entging trotzdem nicht die Furcht, die darin mitschwang.»Ich weiß nicht, was geschehen wird, wenn das Zeremoniell mißlingt, aber es wird etwas Furchtbares sein.«

Indiana sah sie ernst an.»Wissen Sie denn überhaupt, was geschieht, wenn es gelingt?«fragte Indiana leise.

Aus der Furcht in Sandsteins Augen wurde für einen Moment Panik. Aber sie kämpfte sie nieder und zwang sich sogar zu einem Lächeln.»Kommen Sie, Dr. Jones. In ein paar Stunden wissen wir die Antwort auf all Ihre Fragen.«

«Jetzt?«Indiana war trotz allem überrascht. Er hatte damit gerechnet, daß man ihn zu den anderen zurückbrachte, um sie dann gemeinsam abzuholen — falls sie überhaupt an dem Fest teilnahmen. Sandstein hatte bisher keine entsprechende Bemerkung gemacht.

«Es gibt keinen Grund, zu warten«, sagte Sandstein.»Alles steht bereit, alle Vorbereitungen sind abgeschlossen, und die Feuer brennen. «Sie schien noch mehr sagen zu wollen, aber dann sah sie Indiana nur ein paar Sekunden lang schweigend an und deutete schließlich auf die Tür. Doch als er sich herumdre hen und auf die beiden Langohren zugehen wollte, die dort auf ihn warteten, rief sie ihn noch einmal zurück.

«Dr. Jones?«

Indiana blieb stehen und sah sie an.

«Versprechen Sie mir etwas«, bat Sandstein. Ihre Stimme war ganz leise, aber es war etwas darin, das Indiana einen eisigen Schauer über den Rücken laufen ließ. Er sagte noch immer nichts, aber sein Schweigen war Sandstein offensichtlich Antwort genug, denn sie fuhr nach ein paar Sekunden im gleichen, fast flüsternden Tonfall fort:»Wenn … dieses Ding vollends Gewalt über mich erlangen sollte, Dr. Jones, dann müssen Sie mich töten.«

Sie ging mit raschen Schritten an ihm vorbei und aus dem Raum, so schnell, daß er nicht einmal Gelegenheit für eine Antwort fand, und Indiana blickte ihr verstört und zutiefst betroffen nach, bis sie zusammen mit ihrer Leibwache verschwunden war. Es war nicht das letzte Mal, daß er diesen Körper sah. Aber das letzte Mal, daß er Adele Sandstein gehörte.

Die Sonne war bereits untergegangen, als ihn die beiden Vogelmenschen, die zu seiner Bewachung zurückgeblieben waren, wieder ins Freie führten. Trotzdem war es im Inneren des Vulkankraters nicht dunkel geworden. Am Himmel stand ein perfekt gerundeter Vollmond, dessen Licht von keiner Wolke beeinträchtigt wurde. Aus dem Kraterinneren drang das düsterrote Licht der Lava herauf, und von seinen Rändern herab beantwortete ein hellerer, roter Schein die Glut: das Flackern Hunderter lodernder Feuer, die die Langohren auf dem Kraterrand entzündet hatten. Die Polynesier selbst hatten auf seiner Innenseite Aufstellung genommen, so daß sich ihre Gestalten als tiefenlose, schwarze Gestalten vor dem Feuer schein abhoben. Indiana erschrak leicht, als er sah, wie viele es waren. Er hatte bisher angenommen, daß es sich um einen Stamm von vielleicht fünfzig oder hundert Kriegern handelte, eher weniger, nach dem Gemetzel am Strand — aber es waren Hunderte, wenn nicht mehr als tausend hünenhafte Krieger, die um den Krater herum Aufstellung genommen hatten, jeder einzelne ein Riese, und jeder einzelne in einen schreiend bunten, prachtvollen Federmantel gehüllt und in voller Be waffnung. Wie sie so dastanden, erinnerten sie tatsächlich an einen Schwarm gewaltiger Vögel, der sich auf dem Kraterrand niedergelassen hatte, und plötzlich mußte Indiana wieder an das denken, was Sandstein über diesen Abend gesagt hatte: Sie werden fliegen.

Er versuchte sich dagegen zu wehren, aber für einen Moment hatte er die absurde Vorstellung, daß sich all diese riesigen, unheimlichen Krieger gleich in die Luft erheben würden, um mit mächtigen Flügelschlägen über dem Krater zu kreisen.

Natürlich war schon der bloße Gedanke Unsinn. Aber seit sie dieses vergessene Eiland am Ende der Welt betreten hatten, hatte er schon viele Dinge gesehen und erlebt, die er einen Tag vorher noch als» unmöglich «bezeichnet hätte.

Erst als der Bastkorb mit Indiana und seinen beiden Bewa chern schon weit über den Krater hinausgeschwungen war, fiel ihm auf, daß ihr Ziel diesmal nicht der gegenüberliegende Eingang war. Vielmehr stiegen sie in steilem Winkel in die Höhe und näherten sich einem rechteckigen Plateau, das dicht unterhalb des Gipfels aus der Felsenwand herausgemeißelt worden war. Zwei fünf Meter hohe Kopfstatuen standen wie steinerne Wächter an den Eckpunkten des schmalen, überhän genden Stückes, und eine dritte, etwas kleinere, mit rotglühen den Kristallaugen, erwartete ihn etwa zehn Meter dahinter. Sandstein stand, in einen blutroten Federmantel gehüllt und eine lodernde winzige Sonne in beiden Händen haltend, im Schatten dieser Figur und blickte ihm entgegen. Ein gutes Dutzend besonders großer und wild aussehender Vogelmen schen flankierte sie. Von den anderen Gefangenen war nichts zu sehen.

Indiana sprang aus dem Korb, noch ehe der den Boden ganz berührt hatte, und ging auf sie zu. Aber seine Schritte wurden langsamer, je näher er ihr kam, und schließlich blieb er ganz stehen. Die Frau im Schatten der riesigen Figur war nicht mehr Adele Sandstein. Aus ihren Augen starrte ihm der Dämon entgegen.

«Kommen Sie, Dr. Jones«, sagte Mi-Pao-Lo lächelnd.»Der große Augenblick ist da. Der Moment, auf den mein Volk seit mehr als tausend Jahren geduldig gewartet hat. «Sie machte eine einladende Geste und signalisierte ihm beinahe gleichzei tig auch, ihr nicht zu nahe zu kommen. Indiana blieb einen guten Meter von ihr entfernt stehen. Nicht zu nahe, um sie zu beunruhigen, aber nahe genug, um sie mit einem entschlosse nen Sprung zu erreichen, sollte es nötig sein.

Sandstein gab ein Zeichen, und irgendwo in der Weite des Kraterrandes begann eine Trommel zu schlagen. Die Feuer brannten höher, und nach einigen Augenblicken löste sich eine Anzahl der Langohren aus dem Kreis, den die Krieger auf dem Kraterwall bildeten.

Indiana mußte sich beherrschen, um sich seine Erregung nicht zu deutlich anmerken zu lassen; um nicht allzu deutlich hinzusehen, obwohl an seiner Neugier wahrscheinlich nicht einmal etwas Verdächtiges gewesen wäre. Die Feuer brannten nicht gleichmäßig, sondern waren nach einem Muster auf dem Kraterrand verteilt, das zufällig schien, es aber sicher ganz und gar nicht war. Die Krieger, die sich aus dem Kreis gelöst hatten, traten nun mit gemessenen Schritten neben die flak-kernden Brände und fachten sie zu höherer Glut an, wozu sie große Konstruktionen benutzten, die auf absurde Weise beinahe an Fliegenklatschen erinnerten. Sie hatten sie auf Indianas Anweisung hin in den letzten beiden Tagen angefer tigt. Die Flammen loderten hell auf, sanken wieder in sich zusammen, loderten wieder auf, sanken erneut zusammen … Es war ein monotoner, langsamer Rhythmus, der etwas Einschläferndes hatte, wenn man zu lange hinsah.