Erschrocken gab ihm Indiana ein Zeichen, leiser zu sein.
Ganty senkte zwar gehorsam die Stimme wieder zu einem Flüstern, aber er klang genauso verblüfft und ungläubig, als er weitersprach.»Das … das glaube ich nicht! So blöd können sie gar nicht sein!«
Indiana lächelte flüchtig, wurde aber sofort wieder ernst.»Es ist kein Zeichen von Dummheit, auf etwas hereinzufallen, das man nicht kennt, Ganty.«
«Sie sind wahnsinnig, Jones!«murmelte Ganty.»Wenn sie herausfinden, daß Sie sie betrogen haben, dann — «
«— wird auch nichts anderes geschehen als das, was uns ohnehin bevorsteht«, fiel ihm Indiana ins Wort. Er deutete auf Sandstein.»Schauen Sie sie an, Ganty! Glauben Sie wirklich, sie würde auch nur einen von uns lebend hier weglassen?«
Ganty folgte seinem Blick. Er schwieg, aber in seinem Ge sicht arbeitete es. Und selbst Indiana erschrak, als er ebenfalls wieder in Sandsteins Richtung sah.
Ihr Gesicht hatte sich vollends in eine Grimasse verwandelt.
Aus der sanftmütigen, alten Frau war ein Dämon geworden, der kaum mehr menschlich aussah. Indiana begriff, daß sie endgültig zur Mi-Pao-Lo geworden war. Adele Sandstein existierte nicht mehr. Ihr Körper war nur noch eine Hülle, die einem uralten, bösen Etwas als Werkzeug diente.
Und dieses Etwas schien seinen Blick zu spüren, denn es wandte sich plötzlich um und starrte ihn aus lodernden, roten Augen an.»Der Moment ist nahe, Dr. Jones!«murmelte Sandstein.»Nur eines fehlt noch, um die Beschwörung zu vollziehen.«
Indianas Herz begann zu klopfen. Etwas … stimmte nicht.
Plötzlich hatte er das sichere Gefühl, irgend etwas übersehen, etwas Wichtiges vergessen zu haben.
«Ein Leben«, fuhr Sandstein fort.»Die Götter verlangen Blut, wenn sie uns ihr Gehör schenken sollen. «Sie lachte spöttisch, leise und unendlich böse.»Nun, Dr. Jones — wer soll es sein?«
Indiana verstand nicht gleich.»Wie bitte?«
Sandstein lachte noch einmal und lauter und deutete mit vagen, flatternden Bewegungen auf Indiana und die anderen.
«Ohne Ihre Hilfe wäre dieser Moment nicht möglich gewe sen, Dr. Jones«, sagte sie.»Deshalb bin ich in gnädiger Stimmung.
Ich überlasse es Ihnen, das Opfer zu bestimmen.«
Ein einziger Schauer überlief Indiana.»Was soll ich?«fragte er noch einmal, obwohl er im Grunde sehr genau wußte, was Sandsteins Worte bedeuteten. Aber es war eine solche Unge heuerlichkeit, daß er sich einfach weigerte, es zu glauben.
Das Lächeln in Sandsteins Augen erlosch.»Stellen Sie sich nicht dumm!«sagte sie ärgerlich.»Sie wissen sehr gut, wovon ich rede, auch wenn Sie so unaufmerksam waren, ausgerechnet diesen Teil der Inschrift nicht zu übersetzen. Make-Make verlangt Blut. Wenn Sie nicht bereit sind, das Opfer zu bestimmen, so werde ich es tun.«
Sie blickte ein paar Sekunden nachdenklich von einem zum anderen und deutete dann auf Ganty.»Sie!«
Ganty fuhr entsetzt zusammen. Er wich einen Schritt zurück, aber die Stricke, die ihn mit den anderen verbanden, stoppten seine Bewegung.
«Warum ausgerechnet er?«fragte Indiana.
Sandstein lachte.»Warum nicht? Oh, ich weiß, was Sie für Mr. Ganty empfinden, Dr. Jones. Aber sehen Sie es einmal so: Mr. Ganty hat die Hälfte seines Lebens damit zugebracht, mein Volk zu beschützen. Nun wird er es dafür opfern, es in die Freiheit zurückzuführen. Gibt es denn etwas Schöneres, als für genau das zu sterben, wofür man gelebt hat?«
«Sie sind ja wahnsinnig«, murmelte Indiana.
Und sprang vor.
Die Bewegung war so schnell, daß sie ihn beinahe selbst überraschte. Die beiden Langohren, die rechts und links von Sandstein standen, versuchten noch zu reagieren, aber sie kamen viel zu spät. Indiana prallte gegen Sandstein, entriß ihr den Kristall, schleuderte sie zu Boden und sprang im selben Augenblick wieder zurück. Drohend hob er den lodernden roten Stein in die Höhe.
Die Polynesier erstarrten. Eine Mischung aus Fassungslosig keit und Entsetzen breitete sich auf ihren Zügen aus, aber keiner der Krieger wagte es, auch nur einen Schritt in seine Richtung zu tun.
Indiana hob den Kristall mit ausgestreckten Armen weiter in die Höhe, bis er direkt vor seinem Gesicht leuchtete und flammte. Das grelle, blutfarbene Licht — und vor allem das Wissen um das, was dieser Stein zu tun vermochte — hatten ihn verzehrende Hitze und Glut erwarten lassen, aber was er fühlte, war das genaue Gegenteil. Der Kristall war kalt. Seine Finger und seine Hände wurden gefühllos und steif, und die Kälte kroch rasend schnell weiter in seinen Arm empor.
Aber es war nicht nur Kälte.
Der Woge aus eisiger Taubheit folgte etwas anderes, Schlimmeres. Etwas Dunkles und Uraltes, das seit undenkli chen Zeiten im Inneren des Kristalls gelauert hatte, etwas, das so alt war wie diese Welt, vielleicht älter, und unvorstellbar böse. Aber er spürte auch die Verlockung, die ihm innewohnte, und die unvorstellbare Macht, die ihm zur Verfügung stehen würde, wenn er sich ihr hingab.
Wie durch einen roten Schleier hindurch sah er, daß Sand stein wieder aufstand und einen Schritt auf ihn zutrat.»Worauf warten Sie, Dr. Jones?«fragte Sandstein noch einmal.» Sie können es tun! Töten Sie mich! Töten Sie alle hier! Es liegt jetzt allein in Ihrer Macht. Sie können uns alle vernichten und Ihr Leben und das Ihrer Freunde und ihre Freiheit retten! Es ist ganz leicht. Sie müssen es nur wollen!«
Indiana wußte, daß sie die Wahrheit sagte. Ein einziger Gedanke, der bloße Wunsch, und der Kristall würde das rote Feuer, das Delano und seine Männer umgebracht hatte, gegen Sandstein und ihre Krieger schleudern.
Aber er wußte auch, daß er dann verloren war.
Das Ungeheuer war nicht die alte Frau vor ihm.
Es war der Kristall. Es war das böse, pochende Herz der Feuerkugel, die er in seinen Händen hielt. Sandstein war nur ein Werkzeug, und wenn er sich der unvorstellbaren Macht des Kristalls auch nur ein einziges Mal bediente, dann würde er werden wie sie, eine Marionette, die nicht einmal mehr wirklich lebte.
«Tun Sie es, Jones!«sagte Sandstein.»Retten Sie Ihr Leben!«
Indiana begann zu zittern. Stöhnend taumelte er einen unsi cheren Schritt auf sie zu, blieb wieder stehen — und ließ die Arme sinken.
Ohne jede Hast nahm Sandstein ihm den Kristall aus den Händen. Sein Pulsieren wurde wieder langsamer, als er sich dem ruhigeren Schlagen ihres Herzens anpaßte. Indiana atmete hörbar auf. Er hatte den Teufel in Händen gehalten, und für einen Moment war er ganz nahe daran gewesen, ihm seine Seele zu verkaufen. Er begann zu schwanken und wäre gestürzt, hätte ihn einer der Langohren nicht auf einen Wink der Mi-Pao-Lo hin aufgefangen.
«Sehen Sie, Jones?«sagte Sandstein lächelnd.»Jetzt haben Sie doch noch selbst die Wahl getroffen. «Sie machte eine befehlende Geste.»Bereitet ihn vor. Und die anderen auch!«
Zwei Meilen westlich auf hoher See Zur selben Zeit
Der Soldat setzte das Fernglas ab und drehte sich um, als er das Dröhnen schwerer Schritte auf dem Metall des Decks vernahm. Das Schiff trieb in völliger Dunkelheit auf dem Meer, aber obwohl er die Gestalt, die sich ihm näherte, nur als Schatten wahrnahm, erkannte er sie sofort. Er machte Anstalten, zu salutieren, aber der Kapitän unterbrach ihn mit einer unwilligen Geste.
«Lassen Sie den Unsinn! Wir sind hier nicht auf dem Exer zierplatz.«
«Wie Sie befehlen. Ich habe — «
«Ich weiß, was Sie entdeckt haben, Leutnant«, sagte der Kapitän. Seine Stimme klang deutlich gereizt. Er streckte die Hand nach dem Fernglas des Leutnants aus, führte die Bewe gung aber nicht zu Ende.
Das Doppelglas war nicht nötig. Das rote Glühen am Himmel war vermutlich auch noch in fünfzig Seemeilen Entfernung mit bloßem Auge zu erkennen. Es sah aus, als hätte ein Teil des Firmaments Feuer gefangen.