«Oh«, murmelte er schwach.»So schnell?«
Der andere runzelte die Stirn.»So schnell was?«fragte er in fast akzentfreiem Englisch.
«Das Erschießungskommando«, sagte Indiana.»Ich dachte, ich hätte noch ein bißchen mehr Zeit.«
Der Fremde machte ein Gesicht, als wüßte er nicht ganz, ob er lachen oder zornig werden sollte, und entschloß sich schließlich zu einer Miene, die irgendwo dazwischen lag.»Man hat mich vor Ihrem etwas skurrilen Humor gewarnt, Jones«, sagte er.»Ich bin Dr. Müller, der Schiffsarzt. Ich soll mich um Sie kümmern. «Er musterte Indiana mit einem sehr langen, prüfenden Blick, zog eine Grimasse und fügte hinzu:»Sieht so aus, als hätten Sie es nötig.«
Indiana setzte sich behutsam auf der schmalen Liege auf und biß die Zähne zusammen, als Müller routiniert, aber alles andere als sanft seine diversen Verletzungen zu untersuchen begann.
«Ich wußte gar nicht, daß die Nazis ihre Gefangenen foltern, ehe sie sie erschießen«, stöhnte er.
Müller blickte kurz hoch. In seinen Augen blitzte es amüsiert, aber sein Gesicht blieb völlig ausdruckslos.»Tun wir gar nicht«, sagte er und beugte sich wieder über Indianas Oberkör per.»Sie erschießen, meine ich. Gewöhnlich nageln wir sie ans Kreuz.«
Indiana konnte nicht sehen, was er genau tat, aber es fühlte sich zumindest an, als träfe er schon gewisse Vorbereitungen, seine Worte in die Tat umzusetzen.
«Ich hoffe doch, standesgemäß an ein Hakenkreuz«, sagte Indiana gepreßt.
«Sicher«, antwortete Müller.»Das Problem ist nur, daß wir ihnen vorher Arme und Beine brechen müssen, damit sie auch passen.«
Indiana grinste und sog eine Sekunde später vor Schmerz hörbar die Luft ein, als Müller unsanft auf sein Handgelenk drückte.»Au!«
«Gebrochen ist jedenfalls nichts«, sagte Müller fröhlich. Er schüttelte den Kopf.»Sie sind entweder der zäheste Bursche, der mir je untergekommen ist, oder Sie haben geradezu unverschämtes Glück gehabt. Was haben Sie getan, Jones? Versucht, den Weltrekord im 100-Meter-Kraulen in kochender Lava zu brechen?«
«Nein. Ich fürchte, ich bin zu tief darüber hinweggeflogen«, antwortete Indiana.
Müller blinzelte, sah ihn einen Moment verwirrt an, zuckte dann aber nur mit den Schultern.»Eigentlich gehören Sie für mindestens vierzehn Tage ins Krankenhaus«, sagte er.»Trotz dem: Können Sie laufen?«
«Ich denke schon«, antwortete Indiana.»Wieso? Ich dachte, dieses Schiff hat eine Maschine.«
«Zwei sogar«, erwiderte Müller.»Der Kommandant möchte Sie sprechen. Fühlen Sie sich kräftig genug dazu?«
«Was passiert, wenn ich nein sage?«erkundigte sich Indiana.
Müller lächelte nur, trat zurück und machte eine einladende Geste, und Indiana stemmte sich mühsam in die Höhe und folgte ihm.
Seine Vermutungen über die Enge an Bord des Schiffes waren offensichtlich falsch gewesen. Es war nicht so schlimm, wie er geglaubt hatte. Es war schlimmer.
Das Schiff barst vor Menschen geradezu aus den Nähten. Außer der normalen Besatzung, den Gefangenen und den Überlebenden von Delanos Gruppe hielt sich noch eine erstaunlich große Anzahl Marinesoldaten an Bord auf, so daß sie im wahrsten Sinne des Wortes über die Männer hinwegstei gen mußten, um sich ihren Weg zum Kommandoraum zu bahnen. Auch in der Zentrale herrschte eine drückende Enge. Indiana verstand so gut wie nichts von Unterseebooten, aber er schätzte, daß dieses Schiff mindestens das Dreifache seiner normalen Besatzung an Bord hatte. Wenn ihre Vermutung stimmte und das Boot tatsächlich zu Delanos kleiner Flotte gehört hatte, dann mußten die Stunden, die es vor der Insel gelegen und gewartet hatte, für die Männer hier drinnen die Hölle gewesen sein.
Müller deutete auf einen Mann, der mit dem Rücken zur Tür am Periskop stand. Obwohl er kein Wort sagte, schien er ihre Anwesenheit zu spüren, denn er drehte sich um, als Indiana ihm auf zwei Schritte nahe gekommen war, und musterte ihn einige Sekunden lang mit undeutbarem Ausdruck. Indiana schätzte sein Alter auf vielleicht fünfzig Jahre, eher etwas jünger. Er sah aus wie ein Mann, der sehr hart sein konnte. Trotzdem wirkte er nicht unsympathisch.
«Dr. Jones, nehme ich an«, sagte er.»Ich bin Kapitänleutnant Brenner. Willkommen an Bord.«
«Oh, ich bitte Sie«, sagte Indiana.»Die Freude ist ganz auf meiner Seite.«
Brenner entging der sarkastische Unterton in Indianas Stimme keineswegs, aber er reagierte nicht darauf. Erst jetzt fiel Indiana auf, daß er nicht nur ebenso erschöpft und müde wie alle anderen hier aussah, sondern auch sehr besorgt.
«Wo sind die anderen?«fragte Indiana.»Ganty und die Barlowes und — «
«Ihren Freunden geht es gut«, unterbrach ihn Brenner.»Miß Barlowe hat sich eine leichte Verletzung zugezogen, aber das ist kein Grund zur Besorgnis. Sie können später mit ihnen reden.«
Er legte eine winzige Pause ein, in der er Indiana auf sonder bar abschätzende Art musterte, dann seufzte er und gab sich offensichtlich einen Ruck.
«Ich will ganz offen mit Ihnen sein, Dr. Jones, denn wir haben wenig Zeit. Wir haben … ein Problem.«
«Wie erfreulich«, sagte Indiana.»Sinkt Ihr Boot?«
Brenner sah ihn zornig an, beherrschte sich aber.»Ihre Ver bitterung ist verständlich, Dr. Jones«, sagte er.»Aber sie nutzt im Moment weder Ihnen noch uns etwas. Ich bin nicht sicher, ob wir im Augenblick wirklich noch Feinde sind.«
«Wie meinen Sie das?«fragte Indiana alarmiert.
Statt zu antworten, trat Brenner einen Schritt zur Seite und zeigte mit einer einladenden Geste auf das Sehrohr. Indiana zögerte eine Sekunde, in der er Brenner nur verwirrt anstarrte, aber dann trat er gehorsam an das Periskop und preßte die Augen gegen das Okular.
Draußen herrschte noch immer tiefste Nacht, und es dauerte eine Weile, bis sich seine Augen an das schwache Licht gewöhnt hatten. Aber dann begriff er, was Brenner meinte.
Das Meer war voller Schiffe.
Hunderte von kleinen, schlanken Schilfbooten bedeckten den Ozean.
«Sie folgen uns, seit wir die Insel verlassen haben«, sagte Brenner.»Fragen Sie mich nicht, wie sie das machen. Wir sind die ganze Zeit getaucht gewesen, aber irgendwie haben sie unsere Spur aufgenommen. Und es werden immer mehr. Die Flutwelle hat sie kräftig durcheinandergewirbelt, aber diese Dinger scheinen unsinkbar zu sein.«
«Und ziemlich schnell«, sagte Indiana, ohne den Blick von der gespenstischen Flotte zu wenden. Es waren nicht einfach nur einige Polynesier-Krieger, die ihnen gefolgt waren. Es war das gesamte Volk der Langohren, das seine untergehende Insel verlassen hatte, um die gleiche, schier endlose Reise anzutreten wie schon einmal vor mehr als tausend Jahren.
«Nein«, gestand Brenner nach einem fühlbaren Zögern.»Ich fürchte, wir sind so langsam.«
Indiana löste nun doch den Blick vom Okular und sah ihn fragend an.
«Das Schiff ist beschädigt«, erklärte Brenner.»Die Druck welle hat uns ziemlich übel mitgespielt. Wir laufen kaum noch Fahrt, und mein Erster Offizier behauptet, daß wir allerhöch stem noch eine Stunde auf Tauchstation bleiben können.«
«Dann fürchten Sie, daß sie angreifen, wenn Ihr Boot auf taucht?«
«Genau das will ich ja von Ihnen wissen, Dr. Jones«, antwor tete Brenner ernst.»Verstehen Sie mich nicht falsch — ich glaube nicht, daß sie uns wirklich gefährlich werden könnten.
Aber einmal haben wir nicht genug Torpedos an Bord, um sie alle zu versenken, vor allem aber widerstrebt es mir, ein sinnlos Blutbad unter diesen Wilden anzurichten. Außerdem sind meine Männer völlig erschöpft.«
«Und unsere Vorräte so gut wie aufgebraucht«, fügte Müller hinzu.»Der Treibstoff übrigens auch. Wir kreuzen jetzt schon seit zwei Wochen vor dieser verdammten Insel. Diese Wilden können uns einfach belagern und aushungern, wenn sie das wollen.«
Brenners ärgerlicher Blick bewies, daß diese Information nicht unbedingt für Indianas Ohren bestimmt gewesen war.